Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 185

Das ReSource-Modell des Mitgefühls
In diesem Kapitel soll die Natur des Mitgefühls aus der Perspektive von Psychologie und
Neurowissenschaften erläutert werden. Konkret wollen wir die kognitiven, motivationalen und
sozioaffektiven Prozesse, die Mitgefühl ausmachen, sowie ihre neuronalen Grundlagen
beschreiben.
Dazu müssen wir Mitgefühl zunächst definieren. Wir unterscheiden hier zwischen einer
engeren
Vorstellung
von Mitgefühl als einer Emotion und Motivation sowie einer
weiter gefassten
Vorstellung
von Mitgefühl als einer Seinsweise, d. h. als einem Zugang zur Wirklichkeit und einer
Einstellung zum Leben.
Mitgefühl als Emotion und Motivation
In einer früheren Arbeit haben wir die gebräuchlichen Definitionen von Mitgefühl übernommen und
es definiert als ein tiefes Gewahrsein des Leids eines anderen in Verbindung mit dem Wunsch,
dieses zu lindern („deep awareness of the suffering of another coupled with the wish to relieve
it“
. Andere Autoren
haben Mitgefühl in einer ähnlichen Weise als das Gefühl definiert, das
entsteht, wenn man das Leid eines anderen wahrnimmt und dadurch der Wunsch zu helfen
ausgelöst wird („the feeling that arises in witnessing another’s suffering and that motivates a
subsequent desire to help”). In diesem Verständnis ist Mitgefühl sowohl eine Emotion (ein Gefühl
der Anteilnahme) als auch eine Motivation (der Wille, das Leid zu lindern). Es ist eher ein flüchtiger
Zustand als eine anhaltende Seinsweise.
Mitgefühl als Seinsweise und Einstellung zum Leben
Nach kontemplativen Vorstellungen von Mitgefühl kann Mitgefühl als ein spezieller Zugang zur
Wirklichkeit oder als eine Einstellung zum Leben begriffen werden. So wird Mitgefühl im
Buddhismus laut Dreyfus
als Geistesfaktor („mental factor“) – also eine bestimmte Konstitution
des Geistes – verstanden, die sich entwickeln oder einüben lässt. Durch diese Konstitution
können
als Reaktion auf das Leid oder die Freude eines anderen Emotionen hervorgerufen werden, aber
dies muss nicht der Fall sein. Dreyfus unterscheidet hinsichtlich der Einübung von Mitgefühl
Anfänger und Fortgeschrittene und beschreibt, dass „offensichtlich nur erstere die psychischen und
körperlichen Eigenschaften zeigen, die wir üblicherweise mit Emotionen assoziieren” (eigene
Übersetzung).
“[…] [Beginners] are often described as being overwhelmed by compassion. They can be deeply
moved by compassion and sometimes cry. […] Such an emotion is positive in that it does not
disturb the peace of the mind, but it does arouse the mind. As […] [they] progress, however, their
compassion seems to change. It is less emotional in the usual sense of the word. Such
compassion is described as being equanimous. It is very strong, even stronger than that of […] [the
beginner], but it is more balanced and does not lead to the kind of emotional outburst mentioned
previously.” (S. 43)
In einem Dialog mit dem Dalai Lama vertritt auch Ekman die Auffassung, dass Mitgefühl nicht als
eine Emotion konzeptualisiert werden sollte, und führt aus, dass “Mitgefühl kultiviert werden muss,
Emotionen hingegen nicht”, “Mitgefühl, wenn es kultiviert ist, eine überdauernde Eigenschaft der
Person ist, während Emotionen kommen und gehen“, und „Mitgefühl unsere Wahrnehmung der
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