Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 189

Interozeptives Gewahrsein ist die Fähigkeit, den inneren Zustand des Körpers wahrzunehmen.
Dies kann sich auf die Aktivität der inneren Organe, die Atmung, die Muskelspannung und
Ähnliches beziehen
Körpergewahrsein hilft, dabei präsent zu sein, denn im Gegensatz zu den
Gedanken, die sich auf die Vergangenheit, die Zukunft und auf entfernte Orte beziehen können,
treten Körpersignale immer im Hier und Jetzt auf. Im Kontext von Mitgefühl spielt das
Körpergewahrsein eine weitere wichtige Rolle: Es schafft die Grundlage für das Erkennen von
Emotionen in uns selbst und anderen.
Die Signale aus dem Inneren des Körpers werden in der Insula
(dem „interozeptiven Kortex“)
verarbeitet, einer Hirnregion, die sich tief im lateralen Sulcus befindet, zwischen Schläfen- und
Frontallappen. Diese Region wird auch während des Erlebens von Emotionen aktiviert
Menschen, denen es schwer fällt, ihre eigenen Gefühle zu identifizieren, zeigen eine reduzierte
Aktivität der Insul
. Interessanterweise korreliert das interozeptive Gewahrsein auch positiv mit
der Fähigkeit, Emotionen bei anderen wahrzunehmen. Je besser Menschen ihre eigenen
körperlichen Empfindungen wahrnehmen können, umso exakter fällt ihre Einschätzung der
Emotionen anderer aus
Neurologisch ist es wiederum die Insula, die aktiviert wird, wenn sich
Menschen in das Leid anderer einfühlen
.
Wir haben deshalb guten Grund zu der Annahme, dass uns ein Gewahrsein der
Körperempfindungen nicht nur dabei hilft, stärker wahrzunehmen, was im gegenwärtigen
Augenblick tatsächlich passiert, sondern auch dem Gewahrsein der eigenen Emotionen und der
Emotionen anderer unterliegt – zwei für das Mitgefühl entscheidende Fähigkeiten (siehe auch
für weitere neurologische Substrate der Empathie).
Affekt
Im affektiven Bereich des ReSource-Modells unterscheiden wir zwischen drei Fähigkeiten und
Dispositionen, die für Mitgefühl entscheidend sind: Gefühle des Wohlwollens und der
Herzenswärme erzeugen, schwierige Emotionen akzeptieren und mit ihnen sein, und prosoziale
Motivation.
Öffnung des Herzens: Gefühle des Wohlwollens erzeugen
Ein wichtiger Aspekt des Mitgefühls ist die Fähigkeit eines Menschen, Gefühle der Liebe, der
Herzenswärme und des Wohlwollens für sich selbst und andere zu empfinden. Diese Fähigkeit
wurzelt wahrscheinlich in biologischen Systemen, die sich im Laufe der Evolution zur Pflege des
Nachwuchses entwickelt haben („care system“
oder „affiliative system“
. Mechanismen
dieses Systems gewährleisten, dass das Umsorgen des Nachwuchses intrinsisch belohnend wirkt.
Auf neurochemischer Ebene kommt es zur Freisetzung von Dopamin, Oxytocin und körpereigenen
Opiaten, die im Fürsorgenden Zustände von Belohnung, Entspannung und Ruhe
hervorrufen
(siehe auch
und
).
Es liegt nahe, dass dieses Fürsorge-System bei Primaten besonders ausgeprägt ist, da bei ihnen
die Nachkommen auf längere und intensivere Zuwendung angewiesen sind, als es bei anderen
Spezies der Fall ist. Das Fürsorge-System bildet die Grundlage dessen, was in der
Entwicklungspsychologie als Bindung („attachment“) bezeichnet wird
eine enge affektive
Verbindung zwischen Betreuungsperson und Kleinkind. Später spielt dieses System bei der
Bildung und Aufrechterhaltung affektiver Bindungen von Liebespaaren ebenfalls eine Rolle
Es
kann sich auch auf Freunde oder sogar Fremde ausweiten, sodass wir Verbundenheit, Vertrauen,
Wärme und Wohlwollen gegenüber diesen empfinden oder uns umgekehrt durch deren
Anwesenheit beruhigt fühlen
Wenn wir davon sprechen, das Herz zu öffnen oder Gefühle des
Interozeptives Gewahrsein
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