Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 193

Perspektive
Dieser eher kognitive Bereich des ReSource-Modells kann mit dem „Weisheits“- oder „Einsichts“-
Aspekt kontemplativer Traditionen in Zusammenhang gebracht werden (siehe
. Wir
bezeichnen diesen Teil als „Perspektive“, weil alle Teilkomponenten vom Individuum eine
Perspektivübernahme auf die innere und äußere Welt verlangen. Konkret unterscheiden wir
zwischen drei Teilprozessen, nämlich Metakognition (Übernahme einer speziellen Perspektive auf
die eigenen seelischen Prozesse und Gedanken), Perspektivübernahme auf das Selbst und
verschiedene Selbst-Anteile sowie Perspektivübernahme auf andere. Alle diese Teilprozesse
haben gemein, dass sie eine gewisse „Fluidität“ des kognitiven Systems erfordern: Sie verlangen
vom Individuum, sich von dem zu lösen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als Wirklichkeit
erscheint, und eine alternative Perspektive einzunehmen.
Metakognition
Metakognition wird in der Kognitionspsychologie als „Wissen über das Wissen“ oder „Denken über
das Denken“ oder als die bewusste Wahrnehmung unserer kognitiven Prozesse und Zustände
begriffen
Unser Verständnis von Metakognition im Rahmen des ReSource-Modells beinhaltet
diese Prozesse, geht jedoch darüber hinaus. Wenn wir von Metakognition sprechen, meinen wir
damit die Wahrnehmung des Denkprozesses selbst und die Übernahme einer bestimmten
Perspektive darauf („Beobachtung zweiter Ordnung“). So werden Gedanken als „Naturereignisse“
innerhalb von uns selbst beobachtet und im Zusammenhang mit anderen inneren oder äußeren
Ereignissen (wie Gefühlen, Körperempfindungen, Menschen in unserer Nähe) gesehen. Gedanken
werden also als Ereignisse in uns, nicht als „wer-wir-sind“ begriffen (Desidentifikation). Diese Art
der Beziehung zu den Gedanken wird auch als „kognitive Defusion“
bezeichnet, weil in ihr die
Fusion, oder automatisierte Verbindung, zwischen dem Auftreten eines Gedankens und seinen
Folgen innerhalb des Organismus (weitere Gedanken, Emotionen, Aktionsvorbereitungen)
aufgebrochen ist. Der Erwerb einer solchen Beziehung zu den eigenen Gedanken wird mit einer
Symptomreduktion bei einer Vielzahl von psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht
Das neuronale Substrat einer Beobachtung von Gedanken beinhaltet unter anderem den
anterioren Präfrontalkortex/BA10
An der Metakognition im Sinne von kognitiver Defusion,
Kontextualisierung und Desidentifikation von Gedanken sind wahrscheinlich ähnliche Hirnregionen
beteiligt. Darüber hinaus sind vermutlich zusätzliche Aktivierungsmuster erforderlich, durch die
eine Entkopplung des Denkens von der unmittelbaren ich-bezogenen Verarbeitung, von
emotionalen Reaktionen und der Aktionsvorbereitung realisiert wird
. Weitere Untersuchungen
sind erforderlich, um diese Muster aufzuklären.
Perspektivübernahme auf das Selbst
Viele kontemplative Traditionen stellen die Vorstellung von einem Selbst als einer unabhängigen,
einheitlichen und beständigen Entität in Frage. Die moderne Neurowissenschaft teilt diese Skepsis
und hat gezeigt, dass es im Gehirn kein „Selbstzentrum“ gibt, sondern dass das Empfinden eines
Selbst vielmehr aus dem Zusammenspiel vieler weit verteilter Hirnareale entsteht
Diese
Erkenntnis ist nicht nur in theoretischer Hinsicht interessant, sondern kann, wenn sie tief
verstanden und internalisiert wird, erhebliche Konsequenzen für die Art und Weise haben, wie wir
uns selbst und andere im Alltag wahrnehmen („Selbstkonstruktion“
. Wir können uns der
Abhängigkeit unseres eigenen Selbsterlebens von äußeren Umständen und anderen Personen
bewusst werden (interdependente Selbstkonstruktion), was mit engeren Beziehungen und einem
stärker prosozialen Verhalten assoziiert is
. Die Beobachtung der Veränderungen und der
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