Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 289

Als Tania Singer mich bat, mich in einen Zustand der reinen Empathie ohne ein Mitgefühl oder
altruistische Liebe zu versenken, beschloss ich, mich empathisch in das Leid von Kindern in einem
rumänischen Waisenhaus zu versetzen.
Ich hatte am Abend vorher eine BBC-Dokumentation über diese extrem vernachlässigten
Waisenkinder gesehen und war sehr berührt von ihrem Schicksal. Obwohl diese Kinder jeden Tag
zu essen bekommen und gewaschen werden, waren sie vollständig ausgemergelt und emotional
verwaist. Der Mangel an Zuwendung hatte bereits schwerwiegende Apathie- und
Vulnerabilitätssymptome verursacht. Viele Kinder bewegten stundenlang ihren Oberkörper vor und
zurück und ihr Gesundheitszustand war so schlecht, dass in diesem Waisenhaus Todesfälle auf
der Tagesordnung standen. Selbst beim Waschen zuckten viele dieser Kinder vor Schmerzen
zusammen, denn selbst die kleinste Kollision konnte schon zu einem gebrochenen Arm oder Bein
führen. Als ich mich in empathische Resonanz versenkte, visualisierte ich das Leiden dieser
Waisenkinder so lebendig wie möglich. Das empathische Teilhaben an ihrem Schmerz wurde für
mich sehr schnell unerträglich. Ich fühlte mich emotional erschöpft, sehr ähnlich dem Gefühl des
Ausgebranntseins. Nach ungefähr einer Stunde empathischer Resonanz wurde ich vor die Wahl
gestellt, mich in Mitgefühl zu versenken oder den Vorgang zu beenden. Und weil ich mich nach der
empathischen Resonanz so ausgelaugt fühlte, willigte ich ohne Zögern in einen Wechsel zur
Mitgefühlsmeditation unter Fortsetzung des Gehirnscannens ein. Beim nachfolgenden Versenken
in die Mitgefühlsmeditation veränderte sich mein seelischer Zustand dann völlig. Obwohl die Bilder
der leidenden Kinder noch genauso lebendig vor mir standen wie vorher, lösten sie keine Qual
mehr aus. Stattdessen fühlte ich eine natürliche und grenzenlose Liebe für diese Kinder und den
Mut, mich ihnen zu nähern und ihnen Trost zu spenden. Außerdem war die Distanz zwischen den
Kindern und mir vollständig verschwunden. Und in diesem Moment erkannten wir das immense
Potenzial des Mitgefühls als Gegenspieler zu empathischem Leid und Burnout.
Empathie und Mitgefühlstraining bei Ungeübten
Die Erste-Person-Perspektive von Matthieu Ricard ließ deutlich werden, dass die empathische
Resonanz mit dem Leid anderer eine stark aversive Erfahrung ist. Angesichts dieser Merkmale
kann Empathie tatsächlich zu einem Vorläufer von Burnout werden: Wenn die einfühlende
Resonanz mit Leid wiederholt starke negative Emotionen induziert, kann das als überwältigend
erlebt werden
Menschen in helfenden Berufen (siehe
nd
sowie
,
wie Pflegende oder Ärzte, sind täglich mit dem Leiden anderer konfrontiert und deshalb besonders
burnout-gefährdet. Solch quälende Erlebnisse sind aber nicht auf Krankenhäuser und Pflegeheime
beschränkt – jedem von uns fällt sicherlich ein Verwandter oder enger Freund ein, der gerade unter
einer schweren Krankheit oder unter stark aversiven Gefühlen leidet. Tatsächlich kann jeder an
seinem Arbeitsplatz oder in seinem Privatleben von einer zu starken Resonanz mit dem Leid
anderer überwältigt werden. Die stark negative Gemütserregung, welche Empathie für Leid
begleitete, war alarmierend. Gleichzeitig wurde durch die Erste-Person-Perspektive von Matthieu
Ricard aber auch deutlich, dass Mitgefühl bei der Überwindung dieses Schmerzes helfen konnte.
Aus wissenschaftlicher Perspektive scheint Mitgefühl eine neue Strategie zu bieten, die es
ermöglicht, dem Leid anderer mit warmherzigen Gefühlen zu begegnen. Tatsächlich scheint
Mitgefühl nicht nur der Person zu helfen, die es fühlt (indem sie sie vor dem Burnout schützt),
sondern auch anderen zu nutzen, weil es das helfende Verhalten verstärkt
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