Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 33

V O RWO R T I I
Was wir unter Training verstehen (und was
nicht)
Boris Bornemann and Tania Singer
„Meister, Meister, wie lange brauche ich bis zur Erleuchtung?”
„Nun, vielleicht 20 Jahre.”
„Und wenn ich mich wirklich sehr anstrenge?”
„Dann 40 Jahre”.
    –  Scherz unter Buddhisten
In folgenden Teilen des Buches tauchen Titel wie „Erfahrungen mit Mitgefühlstraining“ und
„Trainingsprogramme für Mitgefühl“ auf. Gestatten Sie uns deshalb einige kurze Anmerkungen zur
Verwendung des Wortes „Training“ in Bezug auf Mitgefühl und Kontemplationspraxis.
In der wissenschaftlichen Literatur werden Kontemplationspraktiken wie jene, die in vielen der
folgenden Kapiteln dargestellt werden, oft als „mentales Training“ bezeichnet
Dieser Begriff wurde
geprägt in Bezug auf andere Formen der mentalen Aktivität, wie zum Beispiel das
Gedächtnistraining
oder das Training motorischer Fähigkeiten durch Imaginatio
Es handelte sich
also um einen etablierten Begriff und einen praktikablen Weg, auf dem Meditation Eingang in die
konzeptuelle Welt der Psychologie und der Neurowissenschaft finden konnte. Auch die Übersetzungen
der klassischen buddhistischen Texte beziehen sich manchmal auf die kontemplative Praxis als
Verstandestraining (so zum Beispiel
Lojong
oder das Sieben-Punkte-Geistestrainin
. Im
Allgemeinen bezieht sich der Begriff Training jedoch auf das systematische Erwerben von Wissen,
Fähigkeiten oder Kompetenzen und kann sich von kurzen Zeiträumen, wie zum Beispiel Stunden oder
Tagen über Monate und Jahre, bis hin zum gesamten Leben ausdehnen. In diesem Sinne ist die
Verwendung des Wortes „Training“ im Zusammenhang mit der Kultivierung von Mitgefühl sicher
angemessen.
Doch bestimmte Konnotationen des Wortes „Training“ können Missverständnisse hervorrufen, die zu
einem verständlichen Widerstand gegen die Nutzung des Wortes oder sogar der Praktiken selbst
führen können. Lassen Sie uns deshalb diese Konnotationen kurz im Folgenden verdeutlichen.
Obwohl Engagement und eine entschlossene Motivation für die regelmäßige kontemplative Praxis
notwendig sind, dürfte deutlich sein, dass man sich diesen mentalen Praktiken nicht mit einem
angespannten Geist annähern kann. Selbst bei einfachen Meditationen, die der Konzentration und dem
Ausgleich des Geistes dienen (
Shamata
), liegt der Schwerpunkt auf der Entspannung als Grundlage,
auf der sich Stabilität und Klarheit des Geistes entwickeln können
Und für affektiv fokussierte
Praktiken wie die Meditation der liebenden Güte (
Metta
) ist Entspannung sogar noch wichtiger
Wir
können uns aber nicht dazu zwingen, mitfühlender zu sein, da die schiere Anwendung von Zwang dem
entgegensteht, was wir erreichen wollen. Eine forcierte Einstellung des Erreichenwollens kann dabei
sogar kontraproduktiv sein. Dies spiegelt sich in der
Lojong
-Redewendung „Lasst uns die Hoffnung auf
Ergebnisse aufgeben“ wider
Es kann aber manchmal auch – wie Barry Kerzin es im
anspricht – statt des direkten Abzielens auf ein Mitfühlenderwerden dienlicher sein, Tugenden wie
Geduld, Großzügigkeit und Versöhnlichkeit zu entwickeln, die Mitgefühl entstehen lassen und
unterstützen. Die Ansicht, dass ein zu großer Wunsch für das Mitgefühl kontraproduktiv sein kann, wird
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