Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 357

Abenteuer Shamatha Project
Im Sommer 1974, ich war noch Student, hatte ich die Gelegenheit, an einer bemerkenswerten
Summer School teilzunehmen. Es war der Eröffnungssommer einer neuen buddhistischen
Hochschule in Boulder, Colorado: des
Eines Abends fand ich mich in einer
Meditationsklasse unter der Leitung von Joseph Goldstein wieder – zu einer Zeit, als kaum jemand
diesen Namen kannte. Es dämmerte bereits und der Raum, in dem Joseph seinen Unterricht
erteilte, wurde zunehmend schummriger und es wurde immer schwieriger, überhaupt noch etwas
zu erkennen. Ich erinnere mich noch so genau daran, weil dann dieser Satz von Joseph folgte:
„Wenn ihr euer Erleben genau beobachtet, werdet ihr feststellen, dass in eurem Geist gleich die
Absicht auftaucht, das Licht einzuschalten.“ Euer Erleben genau beobachten, im Geist
auftauchend: eine Absicht. In diesem einen Satz war mein Verständnis vom Geist jetzt aus dem
Blickwinkel von Neurowissenschaft, Introspektion und Buddhismus zusammengeführt – und ich
war Feuer und Flamme.
Absichten entwickeln sich im Kopf, erzählen uns, dass „wir“ nicht an einem bestimmten Ort
existieren. Wir sind in diesem Körper, in diese Umgebung eingebettet und reagieren auf Signale
von innen und außen. Ich verfolgte die Erforschung der subjektiven Erfahrung in zahlreichen
Meditationsretreats weiter, die von frühmorgens bis zum Nachteinbruch dauerten und bei denen
sich stille Zeiten des Sitzens und des Gehens abwechselten. In einem dieser Retreats bekam ich
einen Asthmaanfall und war fest entschlossen, die Meditation zur Beruhigung meines Atems zu
nutzen. Je intensiver ich das versuchte, umso schlimmer wurde es. Als ich schließlich kaum noch
atmen konnte, fühlte ich meine Hand riesengroß und mich
selbst
ganz klein werden und erst dann
war ich in der Lage, mit meiner eigenen Hand liebend für meinen kranken Körper zu sorgen. Ich
stand also auf und nahm mein Albuterol-Spray. Mit diesem simplen Akt der Selbstsorge schenkte
ich mir nicht nur einen freien Atem, sondern auch eine wichtige Erfahrung: Ich erkannte einerseits,
in welchem Maße ich den
gesunden Menschenverstand
ignorieren konnte, und anderseits, wie
fähig ich war, für mich selbst zu sorgen. Dieser Prozess der Introspektion und Erforschung von
Erfahrung ist eng damit verbunden zu lernen, wie wir Eltern für uns selbst werden – eine
wesentliche Aufgabe des Erwachsenwerdens. Und er veranlasste mich zu der Frage: Was
passiert, wenn wir meditieren?
Eine Frage, die wir wissenschaftlich stellen könnten, ist:
Was machen Menschen, wenn sie
meditieren?
Doch diese Frage lässt sich nur schwer beantworten, weil die mentale Praxis kein
eindeutiges Signal erzeugt. Man kann aber die wesentlich wichtigere Frage stellen:
Was machen
Menschen anders, weil sie meditiert haben?
Das ist eine Frage, die sich wissenschaftlich
nachvollziehen lässt.
Einer der wichtigsten Menschen auf meinem Weg zur Untersuchung dieser Frage ist mein Freund
und Kollege Richie Davidson, ein bekannter Psychologe, Neurowissenschaftler und
Meditationsforscher.
1990 sollte Richie bei einem Treffen im Mind and Life Institute in Dharamsala, Indien
ein
Referat vor Seiner Heiligkeit, dem Dalai Lama, über unsere Forschungsergebnisse über
Hirnaktivität und Emotionen halten, konnte aber den Termin nicht wahrnehmen. Ich erinnere mich
noch genau, wie er mich mit einem Funkeln in den Augen anschaute und fragte: „Willst du nach
Dharamsala reisen?“ Drei Wochen später fand ich mich bei einer Präsentation vor Seiner Heiligkeit
wieder.
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