Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 187

Modellbeschreibung deutlich werden wird, stützen sich diese beiden Bereiche auf unterschiedliche
neurokognitive Systeme, was die Unterscheidung nicht nur aus philosophischer, sondern auch aus
biologischer Sicht plausibel macht.
Eine Voraussetzung für die Kultivierung dieser beiden Mitgefühlsqualitäten ist die Fähigkeit, den
Geist zu stabilisieren (Aufmerksamkeitskompetenzen) sowie zu lernen, den Fokus von äußeren
Ereignissen auf innere geistige und körperliche Ereignisse zu richten (Introspektion und
Interozeption). Im Modell heißt der Bereich dieser beiden Fähigkeiten „
Präsenz
“, weil sie dazu
dienen, unsere Aufmerksamkeit für das zu schärfen, was in der Gegenwart geschieht, statt sich mit
der Vergangenheit oder Zukunft zu beschäftigen.
Im Folgenden wollen wir detaillierter auf diese drei umfassenden Kategorien – Präsenz, Affekt und
Perspektive – eingehen. Wir werden ihre Rolle für das Mitgefühl und ihre Teilkomponenten
beschreiben sowie darauf eingehen, wie diese Kategorien mit Erkenntnissen und Konzepten aus
Psychologie und Neurowissenschaften in Verbindung gebracht werden können (siehe Übersicht in
.
Präsenz
Viele kontemplative Traditionen betrachten die Fähigkeit, ganz im gegenwärtigen Augenblick zu
leben, als Grundlage eines erfüllten und mitfühlenden Lebens
Neuere Erkenntnisse der
modernen Psychologie haben diese alte Vorstellung bestätigt. So wurden beispielsweise in einer
in den USA mit 2250 Erwachsenen durchgeführten Studie
die Probanden regelmäßig über eine
Smartphone-App kontaktiert und gebeten, anzugeben, womit sie gerade beschäftigt sind, wie sie
sich fühlen und woran sie gerade denken. Es überrascht wenig, dass die Befragten glücklicher
waren, wenn sie über positive Ereignisse nachdachten, als wenn sie mit negativen Ereignissen
beschäftigt waren. Am glücklichsten waren sie jedoch, wenn sie gerade vollständig in ihrer
momentanen Tätigkeit aufgingen und nicht durch Gedanken an Vergangenheit oder Zukunft
abgelenkt waren.
Selbstverständlich ist es in bestimmten Situationen notwendig und sinnvoll, über etwas
nachzudenken, was nicht in der Gegenwart geschieht (beispielsweise Zukunftsplanungen
.
Allerdings scheint es – sowohl hinsichtlich unseres eigenen Wohlbefindens als auch im Hinblick auf
unsere Verfügbarkeit für die Außenwelt – wünschenswert, den Umfang solcher
Gedankenabschweifungen steuern zu können. Diese Kompetenz der bewussten Wahrnehmung
unserer Geistesaktivität und ihre Zurückführung in den gegenwärtigen Augenblick kann in zwei
Teilaspekte zergliedert werden:
Aufmerksamkeit
und
interozeptives Gewahrsein
.
Aufmerksamkeit
Präsent zu sein bedeutet, sich der eigenen Gedankentätigkeit bewusst zu sein, sie willentlich auf
die augenblickliche Situation zu richten und sie dort zu halten. Wenn die Aufmerksamkeit vom
gegebenen Objekt (oder Moment) abgeschweift ist, wird eine neuro-kognitive Funktion erfordert,
welche den Konflikt zwischen der angestrebten und der tatsächlichen Geistesaktivität detektiert
und auflöst. Diese Funktion wurde „Konfliktauflösung“ (conflict resolution) genannt und es konnte
gezeigt werden, dass das anteriore Zingulum und der dorsolaterale präfrontale Kortex
entscheidend an ihr beteiligt sind
Wenn gerichtete Aufmerksamkeit über längere Zeit
aufrechterhalten werden muss, sprechen kognitive Psychologen von Vigilanz (vigilant attention).
Diese Funktion wird durch ein vorwiegend rechts-lateralisiertes fronto-parietales Netzwerk
unterstützt (insbesondere das anteriore Zingulum, den rechten dorsolateralen präfrontalen Kortex,
und den inferioren Parietallappen), im Zusammenspiel mit Hirnregionen wie dem Locus Coeruleus
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