Vielfalt in unserem Innern kann außerdem zu einem facettenreicheren Selbstbild führen
(„Selbstkomplexität“), welches nachweislich ein Schutzfaktor vor stressbedingten Erkrankungen
und Depressionen ist
Ein Gewahrsein von Vielseitigkeit und Veränderung im Selbst könnte
zudem Überidentifizierungen mit bestimmten Selbstaspekten reduzieren. Weniger Rigidität und ein
größerer Humor gegenüber dem „Selbst“ könnten der derzeit beobachtbaren Zunahme von
Egoismus und Narzissmus in unserer Gesellschaft entgegenwirke
. Diese Zunahme ist mit
einem Anstieg der Depressions- und Burnoutzahlen
verbunden und mutmaßlich eine Folge der
übermäßigen Anforderungen und Erwartungen an sich selbst sowie einer erhöhten Neigung zur
Selbstkritik (siehe auch
.
Auf neuronaler Ebene sind kortikale Mittellinienstrukturen sowohl an Reflexionen über das Selbst
beteiligt als auch am Abruf autobiografischer Erinnerungen oder der Verarbeitung von
selbstrelevanten Stimuli
Wichtig für die hier beschriebene Kompetenz ist jedoch die Fähigkeit,
sich von einer bestimmten aktivierten inneren Rolle zu lösen und eine andere einzunehmen. Die
dafür nötigen Prozesse rekrutieren vermutlich den temporo-parietalen Übergang sowie weitere
Strukturen
die auch bei dem Versuch, die Perspektive eines anderen Menschen
einzunehmen, aktiviert werden (beispielsweise Precuneus, medialer präfrontaler Kortex).
Die Perspektive anderer einnehmen
Diese Kompetenz bezieht sich auf unsere Fähigkeit, den Seelenzustand anderer, etwa ihre
Überzeugungen, Gedanken, Absichten oder Sichtweisen, zu verstehen. Die Kompetenz wurde als
„Theory of Mind“, „mentalizing“ oder „kognitive Perspektivübernahme“ bezeichnet
. Diese eher
kognitive Route zum Verständnis der sozialen Welt unterscheidet sich von der früher erwähnten
affektiven Route, welche Phänomene wie Emotionsansteckung, Empathie oder Mitgefühl
umfasst
. Während die affektive Route immer die Nachempfindung eines in einem anderen
gegenwärtigen Gefühlszustandes voraussetzt, basiert die kognitive Perspektivübernahme nicht auf
Gefühlen, sondern auf „kalten“ kognitiven Prozessen. Diese Prozesse sind insbesondere dann von
Bedeutung, wenn sich der andere Mensch so stark von uns unterscheidet (beispielsweise durch
Alter, Kultur oder Geschlecht), dass der Versuch einer Resonanz mit Hilfe eigener
Gefühlszustände zu Fehlinterpretationen führen würde.
Die Gehirnfunktionen, die diese Art des Denkens unterstützen, wurden bereits intensiv erforscht
und umfassen den medialen Präfrontalkortex, den temporo-parietalen Übergang, den Precuneus
und das posteriore Zingulum
Die Fähigkeit und Neigung, sich in die Lage eines anderen Menschen zu versetzen, können eine
kognitive Verzerrung abmildern, die als „egocentric bias“ bezeichnet wurde. Damit ist die
Unfähigkeit von Menschen gemeint, sich von ihren eigenen Erfahrungen und Sichtweisen zu lösen,
wenn sie versuchen, herauszufinden, wie andere fühlen, denken oder urteilen
. So kann die
gegenseitige Perspektivübernahme dazu führen, dass beide Seiten die Bedürfnisse und Anliegen
des jeweils anderen besser verstehen, wodurch Interaktionen für beide Seiten befriedigender und
lohnender werden.
Zusammenfassung
In diesem Kapitel nehmen wir eine kognitive-affektive, neurowissenschaftliche Perspektive auf
Mitgefühl ein. Dabei unterscheiden wir eine engere Auffassung von Mitgefühl als flüchtiger,
emotional-motivationaler Zustand von einer umfassenderen Auffassung von Mitgefühl als Zugang
zur Wirklichkeit und Einstellung zum Leben. Innerhalb dieser umfassenderen Auffassung von
Mitgefühl unterscheiden wir drei Bereiche: Präsenz, Affekt und Perspektive. Dabei bildet Präsenz
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