Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 135

Was für den Körper gilt, gilt auch für unsere Motive. Zu verstehen, wie unsere grundlegenden
motivationalen Systeme funktionieren und wie sie unseren Geist erfassen und regulieren können, hat
Bedeutung für Mitgefühl. Viele unserer grundlegenden Motivsysteme sind bereits sehr alt und leisteten
in früheren Umgebungen einen sehr guten Dienst für die Genreplikation. Viele grundlegende Motive
und Wünsche teilen wir also mit den Säugetieren. Genau wie sie möchten wir uns sicher fühlen, wollen
wir lieber essen als selbst gefressen zu werden, suchen wir sexuelle Partner, mit denen wir uns
zusammentun und für Nachwuchs sorgen können, entwickeln wir Bindungen zu unserer
Nachkommenschaft, ziehen wir unsere Nachkommenschaft gegenüber anderen vor, konkurrieren wir
innerhalb unserer sozialen Gruppen um Status und Position und vermeiden wir Ausgrenzung und
Ablehnung. Und wir treten zuweilen sehr stammesbetont und aggressiv gegenüber Menschen auf, die
nicht zur eigenen Gruppe gehören (siehe auch
.
Im CFT-Konzept werden Motive, die sich auf soziale Beziehungen konzentrieren und Orientierung für
das Eingehen verschiedener Beziehungsarten (wie sexuell, konkurrierend, kooperativ, fürsorgend)
geben, als soziale Mentalitäten bezeichnet
. Eine soziale Mentalität steuert Aufmerksamkeit,
Kognition, Verhalten und Gefühl. Stellen Sie sich einmal vor, wie unterschiedlich diese Aspekte in
Abhängigkeit davon sind, ob wir uns einem anderen Menschen als potenziellem Sexualpartner, Feind
oder einer Person nähern, für die wir sorgen möchten
Im Mittelpunkt einer jeden sozialen
Mentalität steht die Motivation, eine bestimmte Art von Beziehung einzugehen. Und wenn andere
Menschen in reziproker Weise reagieren, entsteht eine soziale Rolle und ist die Motivation erfüllt. Ohne
Motivation gäbe es keine Möglichkeit, solche Aufmerksamkeits-, Denk-, Gefühls- und
Verhaltenskompetenzen im sozialen Kontext auszulösen. Eine soziale Mentalität ist komplexer als ein
Motiv, weil sie durch den sich entfaltenden Beziehungsprozess reziprok, dynamisch und ko-reguliert
wird – manchmal sogar von Moment zu Moment. Ich nenne ein Beispiel: Zwei Freunde beginnen ein
Gespräch und geraten allmählich in einen Streit. In diesem Zusammenhang entwickelt sich die
Begegnung von einer zunächst affiliativ-kooperativen zu einer stärker konkurrenzbetonten und
schließlich sogar aggressiven Interaktion. Während dies geschieht, entsteht der Wunsch, wieder stärker
in eine affiliativ-kooperative Beziehung zurückzukehren, weshalb sie entsprechende Signale
aussenden. Wenn beide dieselbe Richtung anstreben, wird die affiliativ-kooperative Beziehung wieder
hergestellt oder aufrechterhalten. Wenn allerdings eine der beiden Personen weiterhin ärgerlich oder
aufgeregt bliebe, würde das die kooperativ-affiliative Mentalität beider blockieren. Soziale Mentalitäten
wurzeln sowohl in motivationalen Modellen als auch in Kommunikation oder Prozessen.
Mitgefühl ist eindeutig eine Art von sozialer Mentalität, da es durch Signale der Außenwelt
hervorgerufen wird, die in einem selbst motivationale Zustände, Kommunikation und Sozialverhalten
auslösen. Mitgefühl wird grob als eine Form der prosozialen Motivation betrachtet – das bedeutet, dass
man motiviert ist, sich für andere zu interessieren, ihnen zu helfen und mit ihnen zu teilen, also nicht nur
Stress abzubauen, sondern auch zum Wohlergehen der anderen Person beizutragen
,
. Dies
hängt mit der Evolution des Altruismus zusammen, der sich aus den Vorteilen des Teilens, der
gegenseitigen Unterstützung, der affiliativen Bindung und der elterlichen Fürsorge entwickelt
hat
Mit der Entwicklung unterschiedlicher kognitiver Kompetenzen, wie Vorstellungskraft,
Perspektivübernahme und Empathie, gestalteten sich diese sozialen Motive und Verhaltensweisen
zunehmend komplexer und reziproker
. Das prosoziale Verhalten des Menschen umfasst, grob
umschrieben, eine Vielzahl von Prozessen, wie ein Interesse an anderen aufbauen, ein emphatisches
Verständnis der Seelenzustände und Bedürfnisse anderer entwickeln, Formen der Freude durch Teilen
empfinden, Mitfreude für andere entwickeln, anderen bei Bedarf helfen (beispielsweise Kinder, die
anderen Kindern bei den Schularbeiten helfen) oder im Notfall beistehen
. Crocker & Canevello
untersuchten Selbstmotivation und Selbstidentität und verglichen dazu Ziele, die auf ein mitfühlendes
Selbst gerichtet sind, mit Zielen, die sich auf das eigene Selbstbild richten. Im Sinne von Zielen, die auf
ein mitfühlendes Selbst gerichtet sind, wurden Studenten befragt, inwieweit sie bemüht waren,
„unterstützend für andere da zu sein” und „Mitgefühl für die Fehler und Schwächen anderer zu haben“.
Grundmotive
135
1...,125,126,127,128,129,130,131,132,133,134 136,137,138,139,140,141,142,143,144,145,...557
Powered by FlippingBook