Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 139

loszuziehen und Dinge zu erledigen, die für das Überleben notwendig sind; 2) ein Wut-/Zorn-System,
das ausgelöst wird, wenn Motive und Antriebe blockiert sind; 3) ein Angst-System, das ausgelöst wird,
wenn dem Tier Schaden oder Verlust droht; 4) ein Sexualitäts-/Lust-System, das sich auf bestimmte
Ziele mit konkreten Verhaltensergebnissen richtet; 5) ein Fürsorge- und Muttergefühle-System; 6) ein
Trauer-System bei Bindungsverlust, das mit Protest/Verzweiflung verbunden ist und 7) ein Spiel-
System, das mit Freude verbunden ist.
Mitgefühl lässt sich allerdings nicht in einer einzigen Dimension unterbringen. Am stärksten ist Mitgefühl
wohl mit dem Fürsorge-System verbunden. Aber auch die Fähigkeit zum Spielerischen und Zärtlichen
kann von Bedeutung sein. Die Regulation von Wut und Angst dürfte ebenfalls eine Rolle spielen. Einige
dieser Funktionen könnten auch in einer Gruppe zusammengefasst werden. So werden beispielsweise
Wut und Angst zusammen mit Abscheu als Teil eines Bedrohungs-Schutz-Systems betrachtet
.
Auch für positive Emotionen gibt es keine einheitliche Funktionsklassifizierung. In einer bedeutenden
Untersuchung merkten Depue & Morrone-Strupinsky
jedoch an, dass einige positive Emotionen
aktivierend wirken, während andere beruhigen – das heißt, dass unterschiedliche Arten positiver
Emotionen gegenteilige Effekte auf physiologische Systeme ausüben können.
Aus klinischer Perspektive betrachtet, geht es hier um eine äußerst wichtige Unterscheidung.
Aktivierende Emotionen hängen vom Wert einer Ressource ab. So hat ein Lotteriegewinn von zehn
Euro einen deutlich anderen physiologischen Effekt als der Gewinn von 10.000.000 Euro! Antrieb,
Suche und Konkurrenz sind mit aktivierenden Emotionen verbunden. Depue & Morrone-Strupinsky
richten die Aufmerksamkeit jedoch noch auf eine andere Form des positiven Affektes, nämlich
Beruhigung und „friedliches Wohlbefinden“. Sobald ein Ziel erreicht wurde (wenn zum Beispiel für Futter
gesorgt wurde und das Tier sich nicht mehr in Gefahr befindet), müssen die Antriebssysteme
„ausgeschaltet“ werden, damit Zufriedenheit oder Ruhe entstehen können und der Energieaufwand
ausgeglichen werden kann. Depue und Morrone-Strupinsky
schlagen vor, das für eine solche
Zufriedenheit verantwortliche System als ein
spezialisiertes Affektregulationssystem
zu betrachten. Das
System wirkt auf der Verhaltensebene eher beruhigend als stimulierend. Zudem wird es von einem
positiven Affekt sowie unterschiedlichen neurophysiologischen Neurotransmittermustern begleitet.
Unsere aktuelle Forschung hat gezeigt, dass das Gefühl der „Sicherheit und Zufriedenheit“ von einer
entspannungsartigen Emotion unterschieden werden kann, die sich wiederum von einer aktivierten,
erregten Art der positiven Emotion unterscheidet
. Für die Überlegungen darüber, warum dieses
Emotionsregulationssystem eine Bedeutung für Mitgefühl haben könnte, ist die Tatsache entscheidend,
dass es quasi in die Evolution der Bindung eingearbeitet zu sein scheint. Dadurch ist eine Mutter in der
Lage, ein verzweifeltes Kleinkind zu beruhigen und schafft durch ihre Präsenz ein Gefühl von Sicherheit
und Ruhe, das eine kindliche Exploration ermöglicht, sowie Schlaf
Und natürlich wissen wir auch,
dass es uns beruhigt, wenn wir uns in Situationen der Verzweiflung anderen zuwenden, von denen wir
Zuspruch erhalten. Somit scheint Freundlichkeit grundsätzlich eher beruhigend als erregend zu wirken.
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