Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 146

Mitgefühls. So unterscheiden sich etwa die mit mitfühlendem Verhalten assoziierten Emotionen von
Menschen, die im Rettungsdienst (zum Beispiel bei der Feuerwehr) arbeiten und eine erhebliche
Portion an Mut und körperlichen Einsatz mitbringen, wohl wesentlich von dem Mitgefühl, das in einem
psychotherapeutischen Setting entsteht, wenn man sich mit belastenden, inneren Seelenzuständen
eines Klienten beschäftigt. Menschen, die Güte und Wärme repräsentieren, müssen nicht die Mutigsten
sein. Und die mutigsten Menschen müssen nicht unbedingt die gütigsten oder herzlichsten sein. Ein
Eintreten für moralisches Handeln und das Bestreben, eine gerechtere Welt zu schaffen, sind eindeutig
mit Mitgefühl verbunden, aber auch hier sind die Emotionen komplex – entscheidend ist allerdings die
Motivation.
Die Verbindungen zwischen den Auslösern von Mitgefühl und Emotionen sind vielschichtig und
kontextabhängig.
Typischerweise assoziieren wir Mitgefühl mit der Emotion der liebenden Güte. Wir sollten aber
aufpassen, dass wir die auslösenden Faktoren von Mitgefühlsmotiven und -verhalten nicht mit solchen
Emotionen überidentifizieren. Manchmal kann es auch die Angst sein, die eine mitfühlende Aktion
hervorruft – beispielsweise, wenn man in ein brennendes Haus läuft, um ein Kind zu retten. In den
1980er Jahren waren es die Enttäuschung und die Wut über die Untätigkeit der Regierung in
Großbritannien, die das Mitgefühl und die Aktionen des Band Aid-Projektes von Bob Geldorf auslösten,
Geld für die Hungernden in Nordafrika zu sammeln
Von zentraler Bedeutung für Mitgefühl ist jedoch
erneut die Tatsache, dass die Evolution Beziehungsstile geschaffen hat, bei denen Individuen ein
Interesse am Wohlergehen anderer haben, die Gefühle und Bedürfnisse anderer verstehen können und
deshalb wissen, was zu tun ist, um Not zu lindern und Wohlbefinden zu verbessern. Menschen, denen
es schwer fällt, über die Gefühle anderer nachzudenken, sie zu mentalisieren und sich darauf
einzustimmen, werden auch dann mit Mitgefühl zu kämpfen haben, wenn sie mitfühlend und motiviert
sind. Deshalb können Bedrohungsgefühle als Ausgangspunkt für Mitgefühl fungieren – sie signalisieren
die Existenz von Leid und Ungerechtigkeit und geben uns das Einsatzzeichen zum Handeln. Aber wir
werden nur kompetent handeln, wenn wir von dieser bedrohungsbasierten Perspektive zur
Mitgefühlsperspektive wechseln können.
Auf dem Weg zur Intelligenz
Die meisten Säugetiere setzen ihr Motivationsrepertoire selbstverständlich gemäß einfacher
emotionaler Erlebnisse und relativ einfacher kognitiver Prozesse um. Menschliches Mitgefühl dagegen
nutzt bestimmte Arten von menschlichen Kompetenzen, wie Denken, Vorstellungskraft, Empathie für
andere haben usw. So sorgen sich beispielsweise zwar viele Tiere um ihren Nachwuchs, aber die
Pflege von alten, kranken oder nicht zur Familie Gehörenden – mit wenigen Ausnahmen – ist sehr
selten. Andererseits wissen wir aus Fossilfunden, dass bereits vor über einer Million Jahre Menschen
überlebt haben, die schwer verletzt oder krank waren. Sie hätten niemals überleben können, wenn man
sich nicht um sie gekümmert hätte. Die Fürsorge entwickelte sich in der menschlichen Evolution
schlagartig zu dem Vermögen weiter, Leid zu verstehen, zu wissen, was zu tun ist und die Fürsorge auf
Menschen auszuweiten, die selbst keinen Beitrag leisten konnten, aber vermutlich geliebt und
geschätzt wurden
Mitgefühl entwickelte sich also über die grundlegende Versorgung hinaus.
Wenn es um die menschliche Motivations- und Emotionsregulation geht, hat die Evolution eine
faszinierende Geschichte zu erzählen. Vor rund zwei Millionen Jahren begannen die Primaten
intelligent zu werden. Wir können die Evolutionsphasen der zunehmenden Intelligenz anhand von
Fossilfunden nachvollziehen. So gab es verschiedene Veränderungen, wie etwa in der Stärke des
Schädels, wodurch ein Hirnwachstum möglich wurde, in der Verlagerung des Kehlkopfes, wodurch
Sprache möglich wurde, und in der massiven Ausdehnung des Kortex
. Neuere Arbeiten entdeckten
beim Vergleich der DNA von Schimpansen und Menschen eine Reihe von genetischen Veränderungen,
die offensichtlich eine Rolle dabei gespielt haben, dass wir ein neuartiges Gehirn erhielten, das es uns
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