Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 151

8. Wir haben ein intelligentes Gehirn entwickelt, das in der Lage ist, über die Gedanken anderer
Menschen nachzudenken und zu verstehen, dass andere Menschen Gefühle und Motive haben
und leiden können. Tatsächlich ist es dieser Aspekt unseres Geistes, der in Verbindung mit
fürsorglichen Motivationen zum echten Mitgefühl wird. Deshalb ist Mitgefühl mehr als Anteilnahme.
Es geht um die Fähigkeit, die Erfahrungen anderer zu erfassen, zu mentalisieren und sich darauf
einzustimmen sowie motiviert zu sein, Seelenzustände in ihnen zu schaffen, die frei von Leid sind
und zu einem Leben im Zustand des Wohlbefindens und des Friedens befähigen.
9. Der Wunsch, ein mitfühlender Mensch zu werden, konzentriert sich auf unsere bewusste
Intentionalität und Selbstidentität und hilft uns dabei, unseren Geist zu schulen, statt in einem Geist
verhaftet zu bleiben, der lediglich auf alle möglichen Stimuli reagiert.
10. Unsere Fähigkeit, Mitgefühl von anderen und Selbstmitgefühl zu
erleben
, hängt mit unserem
Vermögen zu affiliativen Emotionen wie Liebe zusammen. Mitgefühl für andere, insbesondere
wenn sich dieses auf die Rettung von Menschen aus Gefahren oder die höheren Grundsätze von
Moral, Fairness und Gerechtigkeit konzentriert, ist weniger von affiliativen Emotionen und stärker
von moralischer Reife und komplexen Wesenszügen wie Mut abhängig.
Wenn wir beginnen, achtsamer zu werden und zu verstehen, wie der Geist beschaffen ist, den uns die
Evolution vererbt hat, werden wir erkennen können, wie Mitgefühl den Geist über besänftigende
Qualitäten reguliert und bestimmte Arten affiliativer Beziehungen zu anderen ermöglicht. Und wenn wir
die positiven Wirkungen des Mitgefühls auf unser eigenes Wohlbefinden und das anderer erkennen,
können wir uns entscheiden, wie wir es kultivieren wollen – nicht nur in persönlicher Praxis, sondern
auch in der Welt und in den sozialen Verhältnissen, die wir schaffen. Dann erkennen wir den Einfluss,
den der soziale Kontext auf die Entwicklung der Jugend und diejenigen hat, die noch geboren werden
und deren Geist und genetische Expressionen in diesen Umfeldern noch zu formen sind.
Heute spricht vieles dafür, dass uns ein Sich-geliebt-fühlen (im Gegensatz zu einem Sich-ungeliebt-
oder Unerwünscht-fühlen) und Lieben (im Gegensatz zu Gleichgültigkeit oder Hass) im Sinne von
Stresshormonen, Funktionsweise des Immunsystems, Frontalkortexverarbeitung und Kreativität dabei
hilft, optimal zu funktionieren, und Glück und noch vieles mehr fördert
(siehe auch
).
Unsere Grundnatur ist zwar nicht liebend oder mitfühlend, genauso wenig, wie sie potenziell grausam
oder gewaltsam stammesbezogen ist – das sind alles Potenziale in uns. Aber die Kultivierung einer
liebenden Natur stimuliert bestimmte entwickelte motivationale Systeme und entwickelte kognitive
Kompetenzen in uns. Sie bringt das „Beste“ von uns in die Welt, hilft uns, in diesem kurzen Kampf, den
wir Leben nennen, optimal zu funktionieren und echte Güte sowie Gefühle der Verbundenheit zu
erleben. Wenn so eine harmonischere und deshalb sozialere Welt entsteht, werden wir alle davon
profitieren.
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