Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 147

im Vergleich zu Schimpansen und anderen Primaten, ermöglicht, Informationen auf vollständig
neuartigen Wegen zu analysieren und zu verarbeiten
Das heißt nichts anderes, als dass Menschen
jetzt Gehirne haben, die eine Vorstellungskraft entwickeln, logisch denken, antizipieren und planen
können. Wir können im Geiste Simulationen ablaufen lassen und sehr aktiv Probleme lösen, kreativ und
innovativ sein und uns vorstellen, was in den Köpfen anderer vor sich geht. Wir haben, was Suddendorf
& Whitten
einen
„collating mind“
nennen – einen Verstand, der in der Lage ist, Symbole zu
verwenden und eine unglaubliche Informationsmenge so zu integrieren, dass Einsichten in höhere
konzeptionelle Ansätze und Prozesse gewonnen werden können. Beispiel: Ich kann verstehen, dass
Sie davon ausgehen, dass er nicht versteht, was ich sage. Ich kann Wünsche entwickeln und dann
äußerst kreative Wege finden, sie zu erfüllen. Menschen verstehen den Zusammenhang zwischen
Sexualität und Reproduktion und greifen durch Verhütung gezielt ein. Gleichermaßen können wir diese
Intelligenz auch für Grausamkeiten wie den Bau von Waffen und die Einverleibung immenser
Reichtümer durch den Verkauf solcher Waffen einsetzen.
Die Kehrseite der Intelligenz
Wenn wir unseren Geist zu verstehen beginnen, nehmen wir mitfühlend zur Kenntnis, dass die
Evolution ihn tatsächlich mit zahlreichen Problemen ausgestattet hat, die wir nicht zu verantworten
haben. Vieles, was in unseren Köpfen passiert, wird durch motivationale Systeme gesteuert, die sehr
alt sind und sich lange vor unseren neuen Fähigkeiten der Vorstellungskraft, Antizipation und Planung
entwickelt haben. Diese alten Systeme können sich an diese neueren Kompetenzen andocken und
Simulationen ablaufen lassen. Stellen Sie sich ein Zebra vor, das vor einem Löwen flieht. Was passiert,
wenn der Löwe aufgibt und das Zebra in Sicherheit ist? Sobald der Löwe und die Gefahr abgezogen
sind, regelt sich die Physiologie des Zebras relativ rasch wieder herunter, sodass es sich wieder auf die
„momentanen Aufgaben“ konzentrieren kann. Was aber passiert bei einem Menschen? Der wird zwar
ein Gefühl der Erleichterung erleben, kann sich aber auch auf die Tatsache konzentrieren, dass er ja
hätte geschnappt und lebendig aufgefressen werden können! Bilder vom „Bei-lebendigem-Leibe-
aufgefressen-Werden“ durchfluten seine Gedanken; er wacht mitten in der Nacht auf und denkt: „Oh
mein Gott, was wäre wohl passiert, wenn ich geschnappt worden wäre? Ich wäre jetzt tot.“ Am nächsten
Tag wird er wach und denkt: „Oh mein Gott, was passiert, wenn ich den Löwen heute nicht entdecke
und er mich erwischt? Was passiert, wenn meine Kinder draußen spielen und den Löwen nicht
bemerken und er sie schnappt? Ich werde niemals mehr nach draußen gehen und mich in dieser
Umgebung sicher fühlen können.“ Menschen können sich das Potenzial von Schmerzen, Terror, Leid
und Tod in einer Weise vorstellen, wie es Tiere nicht können.
Das menschliche Gehirn kann kontinuierlich über „Was wäre, wenn … und nehmen wir einmal an,
dass“ nachdenken. Dieses Vermögen der Planung, der Antizipation, der Vorstellungskraft und des
Nachdenkens ist die Quelle unserer Kreativität, kann uns aber auch in sehr schwierige und leidvolle
Kreisläufe verstricken. Wir bekommen Angst, entwickeln daraufhin eine von Angst geprägte Denkweise
der Vorsicht und des Grübelns und dann werden wir noch ängstlicher. Wir geraten in die Fänge solcher
Kreisläufe. Das Bedrohungssystem kann dann die Kontrolle darüber übernehmen, was wir denken und
wie wir unsere Aufmerksamkeit verteilen. Beispiel: Stellen Sie sich vor, dass Sie Weihnachtseinkäufe
erledigen und die Verkäufer in neun von zehn Geschäften wirklich sehr hilfsbereit sind und Sie dort
Geschenke kaufen, mit denen Sie sehr zufrieden sind. Aber in einem der Geschäfte ist der Verkäufer
sehr unfreundlich, und schließlich kaufen Sie dort etwas, das Sie eigentlich gar nicht wollten und
bezahlen viel mehr, als Sie vorhatten. Und über wen reden Sie, wenn Sie nach Hause kommen?
Wahrscheinlich reden Sie über den Verkäufer, der Ihnen das verkauft hat, was Sie gar nicht wollten,
und Sie konzentrieren sich also auf Ihre Wut und Ihren Ärger – obwohl neunzig Prozent der Menschen,
denen Sie begegnet sind, wirklich hilfsbereit waren. Es ist wichtig zu wissen, dass es eher
unwahrscheinlich ist, dass Sie sich auf diese neunzig Prozent konzentrieren, obwohl Sie dann viel
besser über die Welt und Ihren Platz darin denken würden. Unser Bedrohungssystem kann also in
dieser oder jener Richtung stimuliert werden und dann unsere Fähigkeiten zu denken, zu antizipieren,
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