Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 157

Menschliches Leid und die Vier
Unermesslichen
“Wir wollen alle glücklich sein und frei von Leid”
(Seine Heiligkeit, der Dalai Lama)[1]
Diese einfache, aber grundlegende Wahrheit stellt den Kern unseres Alltagslebens dar. Wenn wir
einen Moment innehalten und nachdenken, wird erkennbar, dass die meisten unserer Aktivitäten in
Wirklichkeit darauf abzielen, Leid zu vermeiden und Glück zu erzeugen. Aber auch wenn jeder
glücklich sein möchte, funktioniert das aus irgendeinem Grund nicht immer.
Grundsätzlich suchen wir zwei Arten von Glück: physisches und geistiges Glück. Das physische
Glück hängt oft mit materiellen Dingen zusammen, während sich das geistige Glück aus der
inneren oder spirituellen Entwicklung speist. Abhängig davon, ob wir unser Glück im Erreichen
materieller Besitztümer oder in der inneren Entwicklung geistiger Faktoren suchen, und abhängig
davon, wie wir diese Quellen des Glücks entwickeln, entscheidet sich schließlich unsere
Lebensführung.
Jede Tradition, egal ob spiritueller oder nicht-spiritueller Art, gibt ihre eigene Antwort auf die Frage,
was glücklich macht.
Dennoch dürfte deutlich sein, dass ein materiell-entwickeltes Umfeld und ein entsprechender
Lebensstil allein nicht erfüllend sind. Ihnen fehlt die Dimension der geistigen Leistung. Und auch
physisches Wohlbefinden allein beseitigt nicht die Ursachen für seelisches Leid. Da sich geistiges
Glück im Wesentlichen von inneren Haltungen ableitet und nicht auf die Bereitstellung von Essen,
Wohnung oder Kleidung begrenzt werden kann, muss es auch die Ablösung grundlegender
Ursachen von Leid durch wesentliche Ursachen für geistiges Aufblühen mit einbeziehen.
Erst wenn wir verstehen, dass die Hauptursachen für das Erreichen von Glück und die Befreiung
von Leid eng mit unserem Seelenzustand zusammenhängen, begreifen wir, wo die wichtigste
Veränderung zu geschehen hat.
Die tibetisch-buddhistische Perspektive
Unter den vielen existierenden Konzepten, Auffassungen und Theorien über den Geist bietet uns
die buddhistische Perspektive eine eingehende Untersuchung der Frage, wie unser Geist
funktioniert. Darüber hinaus liefert sie eine Antwort auf die Frage, was denn die Wurzeln für unser
geistiges Glück und unser geistiges Leid sind, und bietet gleichzeitig Transformationsübungen an,
die zur Linderung des Leids und seiner Ursachen beitragen.
Die Grundstruktur der buddhistischen Praxis baut auf drei fundamentale Konzepte: Sichtweise,
Meditation und Handlung. Die Sichtweise oder Perspektive basiert auf dem Verstehen der
Beschaffenheit der Wirklichkeit. Auf der Grundlage dieses Verständnisses werden die eigene
Sichtweise und die eigenen Einstellungen sowie eigene Ziele und das eigene ethische
Wertesystem abgeleitet. Die Meditation hingegen kann als intentionale Einübung einer Gewohnheit
verstanden werden. Dabei geht es um die Internalisierung und Integration von Einsicht, Mitgefühl
und anderen nützlichen geistigen Qualitäten durch die Kultivierung des eigenen Geistes. Die
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