Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 165

Die Feinde der Vier Unermesslichen
Wenn wir uns mit dem Mitgefühl beschäftigen, sollten wir uns dessen bewusst sein, dass das
Mitgefühl auch Gegenspieler und Feinde hat. Während einige dieser Feinde sehr offensichtlich
erkennbar sind, lassen sich andere Gegenspieler oft nicht so leicht identifizieren. Sie erscheinen in
maskierter Form, sind trügerisch und der positiven Emotion täuschend ähnlich. Deshalb spricht
man von entfernten und nahen Feinden, die es beide im Auge zu behalten gilt – ansonsten wird
die Praktizierung von Mitgefühl ausgetrickst und führt die Anwendung in die Irre.
Die offensichtlichen entfernten Feinde der liebenden Güte sind Hass, Anfeindung, Abneigung, Wut
und Feindseligkeit. In einem Zustand von Hass können wir unmöglich gleichzeitig liebend und gütig
sein. Aber da ist noch eine weitere Emotion, die sich als liebende Güte tarnt. Dieses Gefühl ist das
Begehren oder – in einer abgeschwächteren Form – die Anhaftung. Beide sind nahe Feinde der
liebenden Güte. Auf den ersten Blick erscheint die maskierte Anhaftung genauso wie die liebende
Güte, doch aufgrund ihres motivationalen Faktors besteht ein Unterschied. So können wir in einer
Beziehung beispielsweise unseren Partner als Ursache für unser Wohlergehen betrachten. Doch
wenn die liebende Güte nicht echt ist, wird der Wunsch „Mögest du glücklich sein und die
Ursachen des Glücks haben“ zu dem Wunsch „Mögest du die Quelle meines Glücks sein“. Hier
geht es um eine Anhaftung, die sich als liebende Güte tarnt. Viele Beziehungsprobleme oder
missglückte Beziehungen sind das Ergebnis einer maskierten Anhaftung oder eines getarnten
Begehrens. Oft agieren Begehren, Anhaftung und damit zusammenhängende Erwartungen als die
eigentlichen dynamischen Kräfte hinter dem, was wir für Liebe halten. Es geht darum, diese
Eigenschaften im eigenen Bewusstsein zu identifizieren und diese nahen Feinde deutlich von der
liebenden Güte zu unterscheiden.
Dieselbe Dynamik trifft auch auf Mitgefühl zu. Der entfernte Feind des Mitgefühls ist die
Grausamkeit – und das ist wohl ganz offensichtlich: Man kann nicht jemandem wünschen, frei von
Leid zu sein und ihm gleichzeitig Schaden zufügen. Grausamkeit kann auch als reiner Wunsch
auftreten, etwa „Mögest du Leid erfahren“ oder „Ich werde dich vernichten“. In unmittelbarer
Nachbarschaft zum Mitgefühl kann eine weitere Emotion auftreten, die oft mit dem Mitgefühl
verwechselt wird: Es ist das Mitleid, der nahe Feind, der sich als Mitgefühl tarnt. Mitleid ist das
Gefühl des Bedauerns über das eigene Unglück oder das Unglück anderer. Mitleid ist nicht
hilfreich. Es erzeugt ein Gefühl der Überlegenheit, das wiederum eine Ursache für Arroganz und
zahllose weitere Probleme darstellt. Mitleid blockiert zudem die eigenen Impulse und Aktivitäten,
das Leid in einer angemessenen Weise zu lindern, und kann Leid sogar noch vermehren. In
unserer Kultur wird Mitleid oft für Mitgefühl gehalten: „Wer kein Mitleid verspürt, ist gleichgültig
gegenüber der Not und kann kein Mitgefühl empfinden!“ Mitleid in diesem Sinne hat die Ursachen
des Mitgefühls nicht richtig verstanden. Mitleid liegt vor, wenn es uns leid tut, dass sich jemand in
einer unglücklichen Situation befindet – und wir uns dann wieder unseren eigenen
Angelegenheiten zuwenden. Genau darum ist Mitleid kein Mitgefühl, weil es nicht zu einer aktiven
Linderung von Leid führt. Mitleid verschleiert unseren Blick. Und darauf basierend kann unsere
vermeintlich helfende und mitfühlende Handlung das Leid sogar noch verstärken. Während Mitleid
und Bedauern menschliche Emotionen sind und in Kombination mit Empathie auch Ursache von
Diego Hangartner
"Loving Kindness Meditation"
16:39 min
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