Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 163

üblicherweise: „Ich leide jetzt schon genug. Warum sollte ich mich um das Leid anderer kümmern?
” Diese Reaktion beweist, wie beschränkt unsere gewöhnliche Perspektive ist und dass wir nicht
wissen, wie geblendet wir sind. Wir missverstehen die Wirklichkeit und halten unser „Ich” für eine
unabhängig existierende Einheit. Und genau wegen dieser Ich-Bezogenheit leiden wir. Dieses
falsche Festklammern an einem unabhängigen „Ich“ ist die wesentliche Quelle für unser seelisches
Leid (jedoch nicht unseren Schmerz). Weisheit ist die nachhaltige Erkenntnis, dass wir ein falsches
Verständnis vom „Ich“ pflegen und uns an einem unabhängigen „Ich“ festklammern (siehe
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. Das Gegenmittel gegen unsere irrtümliche Fixierung auf ein autonomes „Ich“ und die damit
zusammenhängenden Leiden heißt Mitgefühl. Deshalb bilden Weisheit und Mitgefühl den Kern der
Übungspraxis. Nur mit beiden gemeinsam gelangen wir zu einem klaren Geist – so wie ein Vogel
beide Flügel zum Fliegen braucht.
Ein weiterer Grund ist eher praktischer Natur: Wenn man sich von einer „Ach, ich armes Ich”-
zentrierten Weltsicht abwendet, erlebt man weniger persönliches Leid. Wenn wir genau hinsehen,
müssen wir doch feststellen, dass ein Großteil des Leids und der Enttäuschungen, die wir erleben,
mit Fragen wie „Warum bekomme ich nicht, was ich mir wünsche?“, „Warum bekomme ich etwas,
was ich mir nicht gewünscht habe?“, „Warum ich?“ zusammenhängen. Neben der simplen
Tatsache, dass wir Dinge bekommen, die wir uns nicht wünschen, und Dinge nicht bekommen, die
wir uns gewünscht haben, ist es uns zur starken Gewohnheit geworden, die Situation durch
zusätzliches seelisches Leiden zu verschlimmern.
Wie oben dargestellt, gibt es viele Diskrepanzen zwischen dem, wie die Dinge erscheinen, und
dem, wie sie wirklich sind. Es ist eine unleugbare Tatsache, dass wir nicht unabhängig von
anderen existieren. Da wir Dank der Großzügigkeit, Güte und Unterstützung anderer überleben,
hängen unser Glück und unser Wohlbefinden – direkt und indirekt – von deren Wohlergehen ab.
Wenn wir erst einmal danach streben, anderen etwas Gutes zu tun, entsteht – wegen unserer
Abhängigkeit von anderen – unser eigenes Glück als Nebenprodukt. Und das ist sehr wichtig zu
verstehen: Glück ist nicht der Hauptgrund, warum wir Mitgefühl entwickeln, sondern entsteht als
weiterer Nutzen. Wir alle wissen, wie gut es sich anfühlt, freundlich zu jemandem zu sein. Der
Wunsch, glücklich zu sein, ist nicht der Hauptgrund, weil es eine kleine Falle in dieser Gleichung
gibt: Wenn man sich wünscht, Glück zu haben, gibt es nach wie vor ein „Ich“, das an dem Wunsch
des Glücklichseins festhält. Und alles, was dieses „Ich“, das doch glücklich sein will, bedrohen
könnte, wird als Feind wahrgenommen. Das verstärkt oft unsere Ängstlichkeit und Agonie.
Mitgefühl entwickeln bedeutet mehr als lediglich für Glück zu sorgen. Mitgefühl entwurzelt unser
irreführendes Festklammern am „Ich“, dem Hauptgrund für Leid.
In der buddhistischen Tradition fokussiert sich das Mitgefühl eher auf die Ursachen und
Bedingungen des Leids als auf das tatsächliche Leid selbst. Denn das Leid, das bereits stattfindet,
wird als resultierender Zustand betrachtet. Im gewissen Sinne ist es bereits die Folge vieler
Bedingungen, die dem vorausgegangen sind. Untersucht man die Ursachen und Bedingungen, die
dem Leid vorausgegangen sind, erkennt man, dass dieser Person oder dieser Kreatur geholfen
werden kann, weil man durch eine Veränderung der Ursachen und Bedingungen den Strom des
daraus resultierenden Leids verändern und verhindern kann[6].
Die Vier Unermesslichen
Wenn wir uns den Begriff des Mitgefühls anschauen, müssen wir feststellen, dass es nicht um eine
isolierte Fähigkeit oder um eine unabhängig von anderen Haltungen bestehende Eigenschaft geht.
Im buddhistischen Zusammenhang wird Mitgefühl als eine der vier Brahmaviharas oder der Vier
Unermesslichen betrachtet, zu denen neben dem Mitgefühl die liebende Güte, die Freude und die
Gleichmut zählen. Sie werden als die Unermesslichen bezeichnet, weil sie vortreffliche
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