Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 162

Antidoten (= Mitgefühl) zu entwickeln. Deshalb ist es entscheidend, dass man über Mitgefühl nicht
nur im Sinne einer Technik, einer Methode oder eines Trainings nachdenkt, sondern es als etwas
begreift, das die tieferen Wesensmerkmale der menschlichen Natur betrifft und eng mit Weisheit
verbunden ist (siehe auch
und
zum Training).
An dieser Stelle wollen wir uns nicht näher mit dem Konzept der Ignoranz beschäftigen, sondern
es dabei belassen zu erwähnen, dass sich die buddhistische Praxis und Studien speziell mit dieser
dritten Ebene des Leids und seiner Ursachen beschäftigen. Die Kenntnis dieser dritten Ebene –
Wirklichkeit, Interdependenz, Impermanenz und das falsche „Selbst“-Verständnis – ist der Kern der
buddhistischen Praxis: Nicht richtig zu verstehen, wie unser Verstand eine Illusion von der
Wirklichkeit erzeugt, wird als Hauptursache von Leid betrachtet. Und zur Linderung genau dieser
dritten Form des Leids hat die buddhistische Tradition eine außerordentliche Fülle an Ansätzen
und Weisheit zu bieten.
Wenn wir uns anschauen, wie die moderne Welt funktioniert, wird deutlich, dass es in erster Linie
um die Vermeidung der ersten beiden Arten von Leid geht, dem „Leid des Leidens“ und dem „Leid
der Veränderung“. Dies ist einer der augenfälligsten Mängel eines hedonistischen, egozentrischen
Lebensstils, der sich in erster Linie mit den persönlichen Annehmlichkeiten beschäftigt und
versucht, dafür zu sorgen, dass sich die äußeren Bedingungen für das eigene Wohlbefinden
möglichst nicht verändern (und falls doch, dann nur im Sinne günstigerer Situationen und
vorzugsweise mit unserer Zustimmung). Doch was passiert, wenn uns eine seelische Krise trifft?
Wenn es uns an Selbstwertgefühl mangelt, wenn wir uns traurig fühlen oder niedergeschlagen,
wütend und frustriert sind? Wenn unser seelisches Gleichgewicht seine vorübergehende
Ausgeglichenheit verliert? In solchen unerwünschten Momenten erleben wir „allumfassendes
Leid“. Obwohl diese subtileren Ebenen von Leid aus buddhistischer Perspektive immer präsent
sind, kann eine geeignete, auf Mitgefühl und Einsicht basierende Geistesschulung alle drei
Leidensebenen modulieren und letztendlich sogar ablösen.
Wenn, wie oben beschrieben, ein vorübergehender Gleichgewichtszustand ohne manifeste
Probleme existiert, nennen wir das möglicherweise Glück. Wenn man, oberflächlich betrachtet,
kein Leid (oder mit anderen Worten: nicht die groben Ebenen des Leids) erfährt, ist man sich
möglicherweise der Art dieses Zustandes gar nicht bewusst und es scheint alles in Ordnung zu
sein. Doch dieser vorübergehende Zustand des Glücks ist nicht stabil. Denn wenn wir uns
beispielsweise an einem Dorn stechen oder uns in den Finger schneiden, erleben wir sofort eine
starke Emotion. Wenn wir uns solche Situationen einmal genau anschauen, lautet die erste
Erfahrung: „Ich erlebe einen neuen Zustand, ich leide“. Und was ist die unmittelbare Reaktion auf
eine solche Empfindung? „Das will ich nicht, das will ich loswerden.” Diese sofortige Reaktion kann
als rudimentäre Form von Abkehr betrachtet werden, als Wunsch, diese unerfreuliche Situation zu
überwinden.
Warum Mitgefühl kultivieren?
Bedeutung und Wert von liebender Güte und Mitgefühl können nicht genug betont werden. Alle
spirituellen Traditionen sprechen darüber. Im Buddhismus wurzelt die Kultivierung des Mitgefühls
in der Überzeugung, dass man durch einen Wandel von der Ich-Bezogenheit zur Bezogenheit auf
andere die Welt deutlicher sieht. Nur, wenn wir die Wirklichkeit klarer und genauer wahrnehmen,
beginnen wir den tatsächlichen Zustand unserer Existenz zu erkennen. Und dieses Verständnis
führt uns weg vom Leid. Die bewusste Entfaltung unserer Anteilnahme für andere ist ein
wesentlicher Bestandteil für das eigene Wachstum. Und da Mitgefühl auf unmissverständlichen
Einsichten aufbaut, die durch eine Beschäftigung mit der Existenz entwickelt werden, ist Mitgefühl
nicht naiv, sondern sehr realistisch. Aus einer ich-bezogenen Perspektive denken wir
162
1...,152,153,154,155,156,157,158,159,160,161 163,164,165,166,167,168,169,170,171,172,...557
Powered by FlippingBook