Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 168

Mitgefühl sein können, kann Bedauern auch ein Auslöser von Wut und Zorn sein.
Die entfernten Feinde der „Mitfreude“ sind eine Kombination aus Zynismus und Verzweiflung. Wer
zynisch und verzweifelt ist, erlebt keine echte Freude. Und auch hier gilt die Unmöglichkeit, beides
gleichzeitig zu erfahren. In der tibetischen Tradition ist zwar oft von „Mitfreude“ die Rede, noch
öfter jedoch geht es um ein Sicherfreuen an Tugenden. Tugenden werden als die Ursachen des
Glücks definiert und wenn wir uns an Tugenden erfreuen, nehmen wir Anteil an der Freude des
anderen und der Verwirklichung seiner Ursachen von Glück. Der nahe Feind der „Mitfreude“ und
des Sicherfreuens ist Frivolität im Sinne von „Alle sind glücklich, alles ist gut und alles ist in
Ordnung“. Das erscheint dann zwar so wie Freude. Aber es ist oberflächlich und es mangelt an der
Tiefe eines intensiven Sichererfreuens und einer Resonanz mit dem anderen. Wenn Mitfreude
empfunden wird, bleibt nicht mehr viel zu tun. Man erfreut sich einfach an der Freude des anderen.
Das ist etwa der Fall, wenn uns nahestehende Menschen einen glücklichen Moment erleben und
uns das begeistert und wir wirklich zutiefst empfinden: „Möge dein Glück größer werden und
ständig wachsen“. So fühlen Eltern, wenn es um das Glück ihrer Kinder geht.
Gleichmut oder Unbefangenheit kennt ebenfalls mehrere Feinde: Die entfernten Feinde des
Gleichmuts sind Anziehung und Ekel, während die nahen Feinde Gleichgültigkeit oder
Sorglosigkeit heißen. Sowohl Anziehung als auch Ekel rauben uns unsere seelische Ruhe. Unter
ihrem Einfluss fühlen wir uns nicht ausgeglichen und verlieren unsere Gemütsruhe. Die
Ausgeglichenheit unserer Stimmung wird gestört, wenn unsere Seele „Ich will“ oder „Ich will nicht“
empfindet. Bei echtem Gleichmut dagegen halten wir unsere Sinne offen. Gleichmut repräsentiert
das Gegenteil zu unserer üblichen Neigung, etwas Bestimmtes zu wollen oder nicht zu wollen. Das
gilt hinsichtlich von Menschen, Dingen und Umständen. Der nahe Feind des Gleichmuts ist die
Gleichgültigkeit. Diese verschließt unsere seelische Empfänglichkeit und motiviert uns zu sagen:
„Das ist mir egal“. Dieser Zustand sollte nicht mit Gleichmut verwechselt werden. Denn Gleichmut
beinhaltet gleichzeitig unsere Anteilnahme – wir interessieren uns gleichermaßen für alles, was um
uns herum geschieht. Und Fürsorglichkeit ist der Gegensatz von Gleichgültigkeit (weitere
Informationen zu diesen Unterschieden finden sich in
).
Zudem schaffen ergebnisorientierte Erwartungen zusätzliche Ursachen für Enttäuschung. In vielen
Situationen entpuppen sich Erwartungen als die größten Hindernisse des persönlichen
Wohlergehens und der eigenen Entwicklung. Denn sie werden, ehrlich betrachtet, selten erfüllt.
Die Wirklichkeit der Dinge anzuerkennen, mitfühlend mit sich selbst zu sein und die eigenen
Grenzen zu akzeptieren, sind entscheidende Voraussetzungen für Mitgefühl. Zudem ist es
hilfreich, sich immer wieder daran zu erinnern, dass Mitgefühl eine der Vier Unermesslichen ist, zu
denen auch die Freude und die Gleichmut zählen. So wirkt sich in vielen Zusammenhängen der
achtsame Umgang mit der Freude besonders vorteilhaft aus. Denn ohne Freude ähnelt eine
mitfühlende Handlung eher einem Opfer. Und langfristig ist ein Leben ohne Freude erschöpfend
und ermüdend.
Bei der kontemplativen Betrachtung einer der Vier Unermesslichen wird traditionell dazu
angehalten, die eigene Meditation zu alternieren. Denn konzentriert man sich dabei zu sehr auf
das Mitgefühl, kann dies zu Schwermut und Traurigkeit führen. Dann sollte man seine Meditation
stärker auf die Freude konzentrieren. Und wenn die Meditation zu stark auf Freude gerichtet ist
und man dabei ruhelos wird, sollte man die Konzentration auf Gleichmut verlagern. Fühlt sich
Gleichmut hingegen zu matt an, wird zu einer Konzentration auf die liebende Güte geraten.
Um diese Fähigkeiten, die zugehörigen positiven Geistesqualitäten und die notwendige Klarheit
der Unterscheidung zu entwickeln, muss man sie einüben. Und genau deshalb ist Meditation als
Geistesschulung und gezielte Einübung einer Gewohnheit eine so entscheidende Ressource.
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