Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 174

wird zum Teil über den Einfluss der Güte und Zuneigung unserer Mutter oder anderer
Hauptbezugspersonen während unserer frühen Kindheit kultiviert (siehe
.
Dukkha
ist im Sanskrit das Wort für Leid. Es bedeutet Elend, Schmerz, Krankheit,
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Diese Dimension von Leid ist für uns alle leicht verständlich.
Subtilere Arten des Leids sind dagegen nicht so leicht zu erkennen. Wenn wir uns an einem
üppigen Büffet laben dürfen, ist das eine große Freude. Wenn wir unseren Teller allerdings zum
dritten Mal füllen und leer essen, verschwindet die Freude. Dies wird als das Leid der Veränderung
bezeichnet. Aus der ursprünglichen Freude wird Leid. Und es gibt eine noch subtilere Form des
Leids, die den anderen beiden Formen zugrunde liegt – die falsche Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Wenn wir uns selbst als unveränderliche und unabhängige Wesen verstehen, entsteht ein Konflikt,
ein Gefühl von „wir gegen die anderen“. Dies wird als konditioniertes allgegenwärtiges Leid
bezeichnet. Es ist Teil des Lebens und beeinflusst alle gewöhnlichen Lebewesen (siehe
.
Doch wenn wir diese falsche Wahrnehmung durchschauen, verschwindet diese verzerrende
Unwissenheit nach und nach. Sie hatte nie eine wirkliche Berechtigung. Sie war immer eine
mentale Projektion, eine große Illusion.
Die Einübung von Mitgefühl kann eine frustrierende Erfahrung sein. Wer sofortige Veränderungen
erwartet, wird enttäuscht. Wir alle haben zu wenig Geduld. Mir fehlt sie zuweilen ganz bestimmt!
Unser geschäftiges und stressvolles Leben ruft nach „schnellen Lösungen“. Wenn wir nicht
innerhalb kurzer Zeit enorme positive Verhaltensänderungen erreichen, neigen wir zur
Enttäuschung. Vielleicht streichen wir sogar die Segel und geben die Mitgefühlsreise auf. Deshalb
ist es klug und im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes, anzuraten, an vielen Fronten gleichzeitig
zu arbeiten, indem man an der Reduzierung von Hindernissen der Mitgefühlskultivierung arbeitet.
Schon das bloße Erkennen solcher Hindernisse und der Versuch, sie zu reduzieren oder aus dem
Weg zu schaffen, verstärkt unser Mitgefühl. Das ist wie bei einer Waage: Wenn die Hindernisse für
Mitgefühl abnehmen, nimmt gleichzeitig das Mitgefühl zu. Unser Herz öffnet sich und wir werden
weniger egoistisch. Die Anteilnahme für andere wächst.
Ego und Selbstsucht
Solche Hindernisse sind in erster Linie in unserem tiefgreifenden Egoismus verwurzelt. Unsere
Selbstsucht fokussiert uns eng auf unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse. In diesem
Narzissmus konzentrieren wir uns ständig auf „ich“ und „mein“. Wir alle sind selbstsüchtig. Mehr als
alles andere wollen wir selbst glücklich sein. Und darin sind wir alle gleich. Das ist der Wesenszug
der Menschheit. Wir Menschen sehnen uns naturgemäß nach Glück und versuchen, das Unglück
zu meiden. Das gilt für alle Lebewesen. Das Problem ist nur, dass wir nicht wissen, wo sinnvolles,
dauerhaftes Glück zu finden ist. Deshalb neigen wir dazu, mehr und mehr für uns selbst
anzuhäufen. Aber das Ich, das wir mit so viel Aufwand und Mühe ernähren, aufrechterhalten,
erfreuen und schützen wollen, ist nicht real. Das gilt auch für die wahrgenommenen
Annehmlichkeiten und Bedrohungen. Sie sind wie Träume. Dieses starke Gefühl von einem
unabhängigen Ich hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun, es basiert auf einer falschen Vorstellung.
Das Ego wird als unveränderlich missverstanden. In Wirklichkeit verändert sich unser Ego in jedem
einzelnen Moment unseres Lebens. Das Kontinuum unseres Egos kann man sich im Laufe der Zeit
wie Perlen auf einer Schnur vorstellen. Nur sehen wir unser Ego nicht so. Wir betrachten es als
unveränderlich und immer gleich. Aber das Ego ist nichts weiter als ein Konzept oder eine
Bezeichnung. Es ist bloß der Klang „Ee go”. Es hat keine solide objektive Existenz außerhalb der
Bezeichnung „Ego“.
Manchmal betrachten wir unser Ego als Meister oder Herrscher über unseren Körper und unseren
Geist. Es erscheint uns fast so, als ob es getrennt über unserem Körper und unserem Geist
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