Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 177

Mitgefühl. Diese umfassendere Sicht auf der Grundlage verstandener Interdependenz ist
ausgewogener und bietet ein vollständigeres Bild. Wenn Egozentrismus abnimmt, entsteht mehr
Raum für Demut. Und wie bei einer Waage nimmt das Mitgefühl automatisch zu. Interdependenz
zu verstehen, erhöht also unser Mitgefühl.
Weisheit
Hier wird deutlich, welch wichtige Rolle der Weisheit zukommt. Die gründliche Erforschung des
Egos wird zu einer wichtigen Methode in der Kultivierung eines tieferen, vorurteilsfreien und
universellen Mitgefühls. Dieses universelle Mitgefühl basiert nicht auf Reaktionen anderer auf uns.
Es geht nicht um einen Deal der Art „Wenn sie freundlich sind, bin ich es auch“ oder „Wenn sie
gemein sind, bin ich es auch“. Dieses Mitgefühl gründet stattdessen auf einer weniger
anhaftenden, wohl überlegten Haltung.
Diese Ablösung befreit uns davon, Dinge persönlich zu nehmen und gibt uns die Freiheit,
unvoreingenommen zu agieren. Diese Haltung wird durch Weisheit kultiviert. Und mit dieser nicht-
anhaftenden Einstellung kann sich unser Mitgefühl auf mehr und mehr Menschen ausdehnen und
schließlich auf alle gleichmäßig verteilen. Das ist mit dem Großen Mitgefühl gemeint. Groß bezieht
sich auf die Zahl derjenigen, die unser Mitgefühl erhalten. Und die wird schließlich fast grenzenlos,
weil wir von unserer Einstellung her jeden unterstützen wollen.
Jeder sehnt sich nach Glück. Keiner wünscht sich Schmerz. Wenn wir uns dieser Gleichheit mit
anderen wiederholt bewusst werden, rücken wir näher zusammen. Wir spüren, dass alle Menschen
gleichermaßen betroffen sind und wir alle auf einer tiefen Ebene gleich sind. Ganz egal, ob wir
Mann oder Frau, jung oder alt sind oder andere Unterschiede aufweisen: Wir alle teilen diese tiefe
Sehnsucht, dass es uns gut gehen möge und wir niemanden verletzen. So erleben wir uns als
Mitglied der riesigen Menschheitsfamilie. Und es spielt keine Rolle mehr, ob dieser Mensch ein
Freund, ein Fremder oder sogar ein Feind ist. Alle fühlen sich wie neue Freunde an.
Wenn wir diese erweiterte Sichtweise einnehmen, entsteht der emotionale Raum, in dem wir uns
von unseren von Ärger erfüllten Gefühlen distanzieren können. Und in diesem emotionalen Raum
lernen wir, uns nicht mit Ärger zu identifizieren. Wir können das Gefühl des Ärgers einfach
loslassen, ohne es als einen Teil von uns zu umklammern. Wir stellen uns dann einfach vor, dass
der Ärger wie eine Wolke langsam am Himmel weiterzieht. Es gibt keinen Grund, sich mit dem
Ärger in Form von „das bin ich“ oder „das ist ein Teil von mir“ zu identifizieren.
Wenn uns Menschen auf die eine oder andere Weise Schaden zufügen, hilft es, sich
klarzumachen, dass diverse Faktoren zu ihrem Verhalten beigetragen haben. Mit dem Praktizieren
von Weisheit ist gemeint, dass wir eine breitere Perspektive auf die Situation einnehmen. Wenn wir
Aggression oder Respektlosigkeit erleben, ist es die Mühe wert zu überlegen, warum die
aggressive oder respektlose Person in dieser Weise handelt. Sehr wahrscheinlich hängen deren
Verhaltensweisen mit Schwierigkeiten – vielleicht auch aus der Vergangenheit – zusammen, die
sie selbst erlebt. So können beispielsweise Probleme in der Ursprungsfamilie vorliegen.
Dysfunktionale Strategien, die in der Kindheit in dem Versuch übernommen wurden, mit
ungesunden Familienverhältnissen umzugehen, begleiten uns später wie ein fauler Apfel ganz
unten in der Kiste. Ein solcher fauler Apfel verdirbt dann alle anderen guten Äpfel in der Nähe. Oft
bleiben solche Strategien unerkannt, obwohl sie direkt unter der Oberfläche große Turbulenzen
wie Reizbarkeit, Depression, Trauer, Wut oder andere negative Stimmungen verursachen. Sie
beeinflussen unsere Beziehungen ein Leben lang. Immer und immer wieder tauchen emotionale
Reaktionsmuster auf der Grundlage dysfunktionaler Kindheitsstrategien auf. Diese zu erkennen,
verändert auch unseren Vergeltungsinstinkt. Diese andere Person, die mich gerade beschäftigt, ist
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