Selbst, Interdependenz und Weisheit
Wir setzen das Bestehen einer fest beschaffenen, dreidimensionalen Welt voraus – mit uns selbst
irgendwo in ihrem Mittelpunkt. Wenn wir uns jedoch die Zeit nehmen, dies einmal etwas genauer
zu betrachten, müssen wir feststellen, dass die Welt etwas unübersichtlicher ist. Unser Geist spielt
eine große Rolle in der Konstruktion unserer Wirklichkeit. Der übliche Blick auf uns selbst als ein
allein stehendes, unveränderliches Ich, das von anderen getrennt ist, ist reine Fiktion. Diese
Sichtweise entsteht in unserem Verstand aufgrund eines Missverständnisses und führt zu einer
Weltsicht nach dem Motto „wir gegen die anderen“. Denn in Wirklichkeit sind wir alle auf vielen
verschiedenen Ebenen eng miteinander verbunden. Und diese Sichtweise öffnet unser Herz für
andere, weil wir unsere Verbundenheit und die Güte der anderen erkennen. Dies bringt uns der
Weisheit der Interdependenz näher. Und dieses Gefühl der Verbundenheit lässt uns näher an
andere Menschen heranrücken, was wiederum unser Mitgefühl verstärkt.
„Our task is not to seek for love but to find the barriers within that we may have built against it“
Diese Weisheit des Dichters Rumi leitet uns bei unserem Streben nach Mitgefühl. Wenn wir unsere
egoistischen Mitgefühlshindernisse einreißen, kann das natürliche Mitgefühl ungehindert strömen.
Doch manchmal führt die Kultivierung des Mitgefühls auch direkt in die Frustration und das kann
sogar kontraproduktiv sein. Professor Paul Gilbert aus Derby, England, hat sich mit Menschen
beschäftigt, die unter einem starken Schamgefühl in Kombination mit lähmender Selbstkritik leiden.
Dabei fand er heraus, dass solche Menschen das Einüben von Mitgefühl oft als beängstigend
erleben und sie dieser direkte Ansatz einer Mitgefühlspraxis deshalb vom Mitgefühlsweg
abbringen könnte (siehe
. Für solche Zielgruppen sind indirekte Zugänge zum Mitgefühl
über andere Ansätze besser geeignet. Zu diesen ergänzenden Ansätzen gehört
Aggressionsmanagement sowie andere Methoden auf der Grundlage von Großzügigkeit (siehe
. Diese führen zu Geduld, Großzügigkeit und Versöhnlichkeit. Sie helfen nicht nur einigen
wenigen bei der Kultivierung des Mitgefühls, sondern uns allen. Denn sie öffnen blockierte
Schleusen, was zu mehr Mitgefühl führt.
Doch was ist eigentlich Mitgefühl? In seiner vollständigeren Entfaltungsform ist Mitgefühl
Altruismus. Beiden liegen die unerlässlichen Merkmale zugrunde, durch eigenen Wunsch, innere
Bereitschaft und tatsächliches Handeln Leid zu lindern. Am Anfang steht dabei der Wunsch, Leid
zu lindern. Mit zunehmendem Vertrauen wächst dann unsere innere Bereitschaft. Und die führt
dann schließlich zum Handeln. Weisheit hilft uns dabei, eine erweiterte Perspektive einzunehmen,
sodass unser Handeln erfolgreich ist. Dieser Vorgang unterscheidet sich von Empathie (siehe
). Empathie bedeutet, zu fühlen, was eine andere Person fühlt. Sie beinhaltet keine
innere Motivation oder Handlung, dieses Leid zu verringern (siehe
. Manchmal wird der
Begriff Mitgefühl sogar als religiöser Begriff betrachtet. Und natürlich ist Mitgefühl auch das
zentrale Thema aller großen Religionen. Doch Mitgefühl ist nicht auf Religion begrenzt. Tatsächlich
existiert Mitgefühl, wie seine Heiligkeit, der Dalai Lama, einmal sagte, jenseits der Religion
Mitgefühl ist lebensnotwendig. Es ist für unser Überleben notwendig. Ein neugeborenes Kind
würde ohne die Güte, Zuwendung und das Mitgefühl der Mutter nicht überleben können. Ohne
Essen, Wärme, Schutz und Unterkunft würde das Neugeborene sterben. Dieses Mitgefühl der
Mutter für ihr Kind ist biologisch begründet. Es hilft, die Spezies zu erhalten und zu bewahren.
Mitgefühl und Zuneigung sind auch für die soziale Entwicklung notwendig. Wenn wir in unserer
frühen Kindheit keine Liebe und Zuwendung erfahren, wird es viel schwieriger, prosoziales
Verhalten zu kultivieren und wirksam in der Gesellschaft zu leben. Denn ein solches prosoziales
Verhalten – etwa in Form von Helfen, Teilen, Geben, Kooperieren und freiwilligen Hilfsangeboten –
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