Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 175

schweben würde. Es scheint wie ein Manager aufzutreten, der diktiert, wie Körper und Geist zu
agieren haben. Wenn wir dieses Ego allerdings genau untersuchen, um es zu lokalisieren, gelingt
uns das nicht. Auf diese verzerrte Weise klammern wir uns an etwas, das in Wirklichkeit gar nicht
existiert. Diese Fiktionen entstehen aus dem tiefgreifenden Glauben an einee solide, unabhängige,
dreidimensionalen Wirklichkeit. Und oft ist uns nicht einmal bewusst, dass wir mit diesem
Überzeugungssystem leben. Wir sind daran so gewöhnt, da es so tief verwurzelt ist. Und deshalb
kommen wir auch nicht auf die Idee, diese Annahme auf den Prüfstand zu stellen. Wir sehen sie
einfach als eine Selbstverständlichkeit an. Wir fragen uns nicht: „Ist meine Wahrnehmung von
meinem Ego richtig?“ Und nur selten, wenn überhaupt, kontemplieren wir die Natur unseres Egos.
Wir überprüfen niemals, ob unsere Wahrnehmungen richtig sind.
Wenn wir die Welt genauer betrachten, stellen wir fest, dass sie kontinuierlich im Fluss ist. Sie
verändert sich mit jedem Moment. Die Welt, in der wir leben, basiert auf einer subatomaren Welt.
Es gibt nur das Proton, das Neutron, das Elektron und andere ziemlich exotische subatomare
Teilchen. Ein Atom besteht zu 99,9 Prozent aus leerem Raum. Diese subatomaren Teilchen sind
immer in Bewegung. Das Konzept der Veränderung ist neben dem Grundsatz der Relativität quasi
in der subatomaren Welt eingebaut. Wenn wir versuchen, die Position eines Teilchens zu
lokalisieren, können wir weder seine Geschwindigkeit noch sein Momentum feststellen.
Umgekehrt: Wenn wir versuchen, seine Geschwindigkeit zu messen, können wir seinen Ort nicht
festlegen. Dieser von Heisenberg als Unschärferelation beschriebene Grundsatz hat zur
Entwicklung der Quantenmechanik geführt. Nicht nur Position und Momentum sind relativ, sondern
auch die Beobachtung eines Teilchens und sein Verhalten sind eng miteinander verbunden und
wechselseitig voneinander abhängig. Schon die bloße Beobachtung eines Teilchens beeinflusst
sein Verhalten. Die Welt der subatomaren Teilchen, das Fundament unserer Welt, existiert also
nur als ein Netz von nahen und fernen Beziehungen. Die Vorstellung ihrer isolierten Existenz,
unabhängig von allem anderen, ist engstirnig und veraltet. Dies lässt auch an die Theorie der
Quantenverschränkung denken, die von Albert Einstein verhöhnt wurde, der sie als „spukhafte
Fernwirkung“ („spooky action at a distance“
bezeichnete. „Entanglement“ war der Begriff, den
Erwin Schrödinger verwendete, als er den Begriff „Verschränkung“ in einem Schreiben an Einstein
übersetzte. Er beschreibt die gegenseitige Beziehung, die zwischen zwei interagierenden Teilchen
nach ihrer Trennung auch auf große Entfernungen fortbesteht. Diese Beziehung zwischen zwei
Teilchen, egal ob nah beieinander oder weit entfernt, wurde zum Sprungbrett von der klassischen
zur Quantenmechanik.
Es gibt viele Parallelen zwischen der Welt der Quantenmechanik und der Welt des Egos. Auch das
Ego existiert nur in wechselseitiger Abhängigkeit, hauptsächlich von Körper und Geist
Das Ego
ist nicht von Körper und Geist getrennt, sondern existiert als ein Netzwerk von Beziehungen,
hauptsächlich mit dem Körper und dem Geist. Und als Bindeglied von Beziehungen kann das Ego
gar keine solitäre, unabhängige Einheit sein. Stattdessen ist es nur ein Netzwerk dynamischer
Wechselbeziehungen. Ohne Körper und Geist gäbe es kein Ego. Und ohne Ego gäbe es keinen
Körper und keinen Geist. Das Ego existiert also als eine Beziehung und kann keine unabhängige
Einheit sein. Es muss relativ sein. Es würde keinen Sinn ergeben, wenn unser Ego unabhängig,
unveränderlich, solitär und von anderen und der Welt abgetrennt wäre – genauso wenig, wie es
auf subatomarer Ebene Sinn ergeben würde. Das Ego erscheint uns lediglich so und fühlt sich so
an. Und so missverstehen wir uns selbst. Unwissentlich leben wir unter der Glocke dieser
Täuschung.
Ein unabhängiges und unveränderliches Ego wäre unbeweglich, so, als ob es in einer zeitlosen,
eingefrorenen, gletscherartigen Welt leben würde – von allem abgeschnitten. Also muss unsere
Wahrnehmung falsch sein. Und auf der Grundlage dieses Wahrnehmungs- und Denkfehlers
unterteilen wir die Welt künstlich in zwei solide, dreidimensionale Zonen von Freunden und
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