Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 176

Feinden. Unsere Welt wird zu einer Welt der Konflikte, gegen die wir antreten. Wir unterteilen die
Welt in Menschen, die freundlich zu uns sind, und Menschen, die uns bedrohlich erscheinen. Auf
der Grundlage dieses Missverständnisses schaffen wir eine Welt voller Konflikte. Dies führt zu
Angst und Argwohn, was wiederum in Misstrauen resultiert. Aber diese Welt der Konflikte ist
letztendlich bloß ein Konstrukt unseres Verstandes. Nichts davon ist real. Unser wahrgenommenes
Ego ist wie ein Bild in einem Traum nach dem Aufwachen. Es ist wie Wasser in einer Fata
Morgana, das sich plötzlich in Nichts auflöst, wenn wir uns nähern. Es ist wie das Abbild eines
Gesichts im Spiegel, das so real aussieht – bis wir hinter dem Spiegel nachschauen.
Barry Kerzin
"Guided Death of the Ego Meditation"
9:28 min
Interdependenz
Die wesentliche Qualität der Weisheit ist Interdependenz. Dabei gibt es mehrere Subtilitätsebenen.
In erster Linie bedeutet Interdependenz, dass unser eigenes Glück mit dem anderer verknüpft ist.
Die Fürsorge für andere wird auf diese Weise zu einer wichtigen Fürsorge für uns selbst. Wie
bereits oben erwähnt, ist Interdependenz zudem ein entscheidendes Merkmal für unsere Welt, wie
sich in vielen Bereichen, wie den Weltfinanzen oder der Weltwirtschaft, erkennen lässt. Im Zeitalter
der Globalisierung, in dem die Welt noch kleiner und noch abhängiger voneinander wird, spielt
Interdependenz eine zentrale Rolle. In der Natur kann man die Interdependenz als den Antrieb
betrachten, der den Wandel bewirkt. Die Evolution der Arten hängt stark von komplexen
Wechselbeziehungen ab. Im Bereich der Biologie gründen Nahrungsketten und Symbiose auf
Interdependenz. Auch der Klimawandel, der sich auf weit entfernte Regionen auswirkt, ist ein auf
Interdependenz beruhendes System. Im Bereich der Physik sind die Feinheiten in der Natur, die
Theorien der Quantenverschränkung und die allgemeine Relativitätstheorie auf Interdependenz
aufgebaut. Die Relativitätstheorie von Einstein erläutert die Beziehung zwischen Schwerkraft und
Raum-Zeit-Kontinuum. Interdependenz ist zudem von fundamentaler Bedeutung für das
Verständnis des Ursprungs des Universums. All diese Systeme und Felder greifen in ihrer
Funktionsweise auf Interdependenz zurück. Wenn wir erkennen, dass so viele Aspekte unseres
Lebens durch Wechselbeziehungen charakterisiert sind, gelangen wir zu einem realistischeren
Verständnis der Welt, in der wir leben. Das hilft uns auch, unseren eigenen Platz in dieser
komplexen Welt besser einzuordnen. Und diese Einsicht wirkt wie ein kräftiger Katalysator auf die
Kultivierung des Mitgefühls, da sie stärker mit der Wirklichkeit in Einklang steht. Das verringert
unsere Selbstsucht und stärkt gleichzeitig unser Mitgefühl. Wenn wir Interdependenz verstehen,
eröffnet sich uns eine Panoramaperspektive, wie wir sie für einen klaren Blick auf die
Gesamtsituation benötigen. Und so können wir bessere Entscheidungen treffen.
In der Regel sind wir alle in unsere eigenen Gefühle verstrickt. Im Mittelpunkt stehen dabei
Gefühle der Verletztheit. Nur selten überwinden wir solche Gefühle und versuchen, die
Empfindungen der anderen Person, die uns verletzt hat, zu verstehen. Welche Umstände in ihrem
Leben haben sie zu einem Tyrann werden lassen? Und welche Folgen hat es für sie, wenn sie
andere tyrannisiert? Wäre die andere Person glücklich, gäbe es keinen Grund für sie, mir
gegenüber feindlich zu agieren. Welche Schwierigkeiten hat sie also? Wenn wir aus dieser
Panoramaperspektive denken, wird unser Verständnis größer und entsteht natürlicherweise
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