Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 164

Geistesqualitäten sind, die endlos weiter entwickelt werden können.
Die vier
Brahmaviharas
(mit ihren jeweiligen Sanskrit-Begriffen) werden wie folgt definiert:
•  Liebende Güte (Skt.
maitri
) ist der tief gefühlte Gedanke: „Mögen alle Wesen Glück und die
Ursachen für Glück haben.“
•  Mitgefühl (Skt.
karuna
) ist der gefühlte Gedanke: „Mögen alle Wesen frei von Leid und den
Ursachen von Leid sein.“
•  Freude (Skt.
mudita
) ist der Wunsch: „Mögen alle Wesen Freude haben und gedeihen und
möge sich ihr Wohlbefinden kontinuierlich verbessern.“
•  Gleichmut (Skt.
upeksa
) ist das Verständnis, dass sich jedes Wesen wünscht, glücklich zu
sein, und lautet deshalb: „Mögen alle Wesen überall Wohlergehen und Gedeihen erleben.“
Die Definitionen von liebender Güte, Mitgefühl und Freude verkörpern jeweils zwei Aspekte. Zum
einen bezieht sich die Definition auf den Motivationsaspekt, den Wunsch, etwas möge in einer
bestimmten Weise sein. Dabei ist es sehr wichtig, sich klarzumachen, dass man sich selbst bei
diesem Verständnis und dieser Definition von Mitgefühl nicht ausnimmt. Es geht nicht um
Ausschluss oder Aufopferung der eigenen Person zugunsten des Wohlergehens anderer. Deshalb
schließt Mitgefühl alle Kreaturen ein, einschließlich der eigenen Person: „Möge auch ich selbst frei
von Leid und den Ursachen von Leid sein.“ Dies darf aber auch nicht missverstanden werden als:
„Möge ich selbst auf Kosten anderer frei von Leid sein.“ Es kann nicht oft genug betont werden,
wie wichtig der Gedanke ist, dass auch andere frei von Leid sein wollen, sei es nun ein Mensch in
der Nähe oder ein Wesen, mit dem wir einen Lebensmoment teilen.
Der zweite Teil der Definition beschäftigt sich mit den Ursachen. Das Hinzufügen der Ursachen
führt zu einer konkreten Handlung: Die Ambition manifestiert sich, wenn man sich dafür einsetzt,
den Wunsch in die Realität umzusetzen. Der Wunsch allein ändert noch nichts. In erster Linie trägt
eine Veränderung der Ursachen zum eigenen Wohlbefinden und dem Wohlergehen anderer bei.
Wenn jemand krank ist, wünscht sich ein Arzt nicht nur Wohlergehen und die Befreiung von Leid
für diese Person, sondern bemüht sich nach besten Kräften darum, den Zustand dieser Person zu
verbessern. Aus buddhistischer Perspektive ist die letztendliche Ursache von Leid Ignoranz – ein
Missverstehen der Interdependenz der Realität. Und sobald man Einsicht und Klarheit in Bezug
auf diese Täuschung gewonnen hat, führt das zur Auslöschung von Leid und dessen Ursachen.
Wie sich den obigen Erläuterungen entnehmen lässt, verläuft die Entwicklung von Mitgefühl nicht
eingleisig. Mitgefühl ist weder eine unabhängige Fähigkeit noch ein Werkzeug, das Glück erzeugt.
Es ist eher eine Seinsweise. Deshalb geht es nicht darum, Mitgefühl zu zeigen, solange es nützlich
erscheint, sondern in seiner ganzen Art mitfühlend zu sein. Mitgefühl ist dementsprechend eng mit
einem ethischen Verhalten und ethischer Lebensführung verknüpft. Die vier
Brahmaviharas
werden immer zusammen gelehrt, unterrichtet und in Erinnerung gerufen, da sie so eng
miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, voneinander profitieren und sich
gegenseitig stärken.
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