Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 159

Die zweite Kategorie wird als das „Leid der Veränderung“ bezeichnet. Man friert an einem
bestimmten Ort und wechselt deshalb zu einem warmen Ort, um sich aufzuwärmen. Aber dann
wird es zu warm und man wünscht sich etwas Kühleres. Oder man ist hungrig und durstig und
nachdem man gegessen und getrunken hat, merkt man, dass man zu viel verzehrt hat. Wenn man
müde vom langen Stehen ist, möchte man sich hinsetzen, aber wenn man eine Weile gesessen
hat, fühlt man sich erneut unwohl und möchte aufstehen. Was zunächst eine Entlastung für einen
bestimmten Zustand ist, kann nach einer gewissen Zeit selbst zur Ursache von Leid werden. Und
darum wird diese Erfahrung als das „Leid der Veränderung“ bezeichnet: Die Befreiung aus einer
bestimmten Situation bringt automatisch eine Veränderung mit sich mit. Das ist das Wesen
unseres Daseins.
Manchmal erleben wir überwiegend die erste Form des Leids – das „Leid des Leidens“ – und
manchmal erleben wir stärker die zweite Art des Leids – das „Leid der Veränderung“. Es ist wichtig
zu verstehen, dass es einen eindeutigen Unterschied zwischen Schmerz und Leid gibt – sie sind
nicht identisch. Schmerz ist die durch eine körperliche Erfahrung ausgelöste Sinnesempfindung,
während Leid die seelische Erfahrung von Unzufriedenheit, Verdruss und Verzweiflung ist (siehe
auch Kapitel 14). Diese beiden Sinneseindrücke treten zwar oft gemeinsam auf. Sie manifestieren
sich aber nicht notwendigerweise zur selben Zeit: Schmerz und Leid können eindeutig unabhängig
vonei
ahren werden.
Hinter diesen vordergründigen und eher groben Formen des Leids gibt es allerdings noch etwas
anderes: ein kontinuierliches Maß an Unzufriedenheit, ein permanentes Gefühl der Ruhelosigkeit,
das Gefühl, etwas Bestimmtes zu wollen und etwas anderes nicht zu wollen. Dies ist die dritte Art
von Leid, die als „allumfassendes Leid“ bezeichnet wird. Dieses Leid hängt eng mit unserem
geistigen Hang zum Anhaften und zur Aversion zusammen. Die wichtigste Ursache für die
Entstehung und Existenz dieser Leidensart beruht nicht in erster Linie auf dem Körper, sondern ist
viel stärker der Tatsache geschuldet, dass wir uns ein geistiges Bild von der Wirklichkeit schaffen.
Wir hängen an angenehmen Objekten, Tönen, Gerüchen, Geschmäckern und Gefühlen und
deshalb sind wir davon überzeugt, dass sie real und die eigentlichen Quellen unseres Glücks sind.
Und umgekehrt entsteht eine Aversion gegen alles, was diese angenehmen Empfindungen und
attraktiven Objekte stört und bedroht. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, so steht doch
eindeutig fest, dass es keine kontinuierliche Quelle der Freude gibt. Wir missverstehen also die
Realität. Und wenn wir genauer und tiefer hinschauen, existieren weder Sinneseindrücke noch
Objekte unabhängig voneinander. Sie bestehen auch nicht unabhängig davon, wie sie uns
erscheinen, wie wir sie wahrnehmen und was wir in sie hineinprojizieren. Dieses Missverständnis
wird als Ignoranz bezeichnet. In diesem Kontext bedeutet Ignoranz jedoch nicht einen Mangel an
umfassendem Wissen (beispielsweise den Inhalt aller jemals geschriebenen Bücher zu kennen),
sondern das Festhalten an einer falschen Perspektive auf die Wirklichkeit.
Es ist wichtig zu verstehen, dass seelische Erfahrungen wie Trauer, Glück, Anhaftung und
Aversion sowie Mitgefühl und Einsicht keine unabhängigen Phänomene sind. Auch wenn sich
diese Erfahrungen im Geist manifestieren, sind sie nicht der Geist selbst. Sie haben eine Ursache
und sind deshalb veränderlich. Und weil sie variabel sind, lassen sie sich modifizieren und sogar
durch geeignete Antidoten ersetzen. Andererseits ist auch unbestritten, dass bestimmte seelische
Zustände – wie Hass und liebende Güte – nicht gleichzeitig existieren können. Eine nähere
Betrachtung über das Entstehen, das Verweilen und das Verschwinden seelischer Phänomene
offenbart, dass seelische Wahrnehmungen co-abhängig erzeugt werden und einer festen Qualität
entbehren. Um Leid zu überwinden, muss man sowohl Weisheit als auch Mitgefühl entwickeln, da
es nicht möglich ist, das eine ohne das andere zu verstehen (= Weisheit) und dafür die richtigen
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