Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 150

zu imaginieren (usw.) aktivieren, was diese Kreisläufe erzeugt, denen wir oft nicht mehr entkommen. In
den meisten Fällen sorgt das Bedrohungssystem für uns und unsere Familie. Wir sind nicht ängstlich,
wenn Menschen in einem anderen Land bombardiert werden – aber wir wären es sofort, wenn sich
eines unserer Kinder anlässlich eines Schüleraustausches gerade dort aufhielte.
Wenn wir das verstehen, können wir innehalten und nachvollziehen, wie ich-zentriert das
Bedrohungssystem tendenziell wirkt und wie stark es an der Erzeugung unserer Gedankenkreisläufe
beteiligt ist. Der Schlüssel liegt darin zu begreifen, dass diese Funktionsweise
nicht unser Fehler
ist.
Nicht wir haben unsere Gehirne mit diesen Funktionsstörungen ausgestattet, sondern die Natur. Viele
Menschen geraten in die Fänge solcher Kreisläufe und Funktionsstörungen, sei es durch Angst, Wut
und Rache oder eigennützige Wünsche. Und wenn wir einmal in diesem Kreislauf gefangen sind, ist ein
Entkommen schwierig. Das ist eine Tragödie – besonders, wenn es um Gruppengewalt geht und eine
Gruppe kontinuierlich Gewaltakte und Grausamkeiten gegen eine andere Gruppe ausheckt, plant und
durchführt. Aber auch eine solche Stammesgewalt ist nicht speziell menschlicher Natur. Sie wurde auch
bei verschiedenen Primaten, einschließlich Schimpansen, beobachtet
Menschen können ihr neues
Denkvermögen dazu einsetzen, wirklich schreckliche Dinge anzurichten. Und daraus können sich dann
über ganze Völker hinweg posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln – was dann
möglicherweise wiederum eine ganze Generation von Vergeltungssüchtigen erzeugt.
Implikationen für Mitgefühl
Die Evolutionsgeschichte erzählt uns, dass wir
so konstituiert
sind:
1. Wir leben ein kurzes Leben, in dem wir geboren werden, auf Pflege und Zuwendung angewiesen
sind, die uns gedeihen lassen – um dann zum Lebensende hin gebrechlich zu werden und
schließlich zu sterben.
2. Unsere Gehirne und Gen-Expressionen (Phänotypen) werden durch unsere Umwelt geprägt.
3. Wir tragen in uns die Saat, Engel oder Dämonen zu werden, weil die Evolution verschiedene
motivationale und emotionale Systeme geschaffen hat, die in bestimmten Kontexten leicht
ausgelöst werden können.
4. Wir sind, insbesondere im Bedrohungssystem, anfällig dafür, Denkkreisläufe zu entwickeln, die
sich auf die Wahrnehmung von Bedrohung fokussieren. Das nährt unsere Ängste, erschreckende
Wahnvorstellungen und Aggressivität, weil es genau das ist, was unser Bedrohungs-
Verteidigungs-System als Antwort entwickelt hat – eine Art „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist
besser“.
5. Die Evolution hat alle möglichen Arten von Vorlieben in uns vorgesehen
beispielsweise
Vorlieben für eigene Familienangehörige, sodass wir unseren eigenen Kindern sehr viel geben,
aber den Kindern, die in anderen Teilen der Welt unter Hunger leiden, sehr wenig; wir ziehen
unsere eigene Gruppe den Bedürfnissen und Wünschen anderer Gruppen vor, sogar bis hin zu
dem Punkt, dass wir andere Gruppen ausnutzen, um unsere eigenen Wünsche zu befriedigen und
„Hass zu kultivieren“
Und selbstverständlich erfolgen solche Gruppenunterteilungen in
unterschiedlichen Varianten und Bereichen, etwa nach Geschlechtern, Religionen oder Rassen.
6. Was die Triebe betrifft, hat uns die Evolution so geschaffen, dass wir relativ vergnügungssüchtig,
selbstzentriert und familienzentriert sind, weil dies für die Genreplikation vorteilhaft ist.
7. Wir haben uns zudem zu einer hoch-sozialen Spezies entwickelt. Als Säuger gehen wir Bindungen
ein, in denen wir darauf angewiesen sind, in unterstützenden, sorgenden Beziehungen beruhigt
und gefördert zu werden. Unsere neurophysiologischen Systeme sind speziell auf die Erkennung
von und Reaktion auf Freundlichkeit und Anteilnahme gerichtet. Mit zunehmender Reife werden
Freundschaften und Verbindungen zu einer wichtigen Quelle für uns, uns sicher in der Welt zu
fühlen.
150
1...,140,141,142,143,144,145,146,147,148,149 151,152,153,154,155,156,157,158,159,160,...557
Powered by FlippingBook