Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 131

Der Fluss des Lebens
Die Herausforderung verstehen
Mitgefühl wird normalerweise als „eine Sensibilität für das Leid in uns und in anderen, verbunden mit
dem Wunsch, es zu lindern und zu verhindern“ verstanden (siehe
und
. Dies legt
zwei unterschiedliche Arten der Psychologie nahe. Zum einen geht es um die Fähigkeit, sich dem Leid
zuzuwenden, es wahrzunehmen, sich gefühlsmäßig damit zu verbinden und es verstehen zu wollen,
ohne sich davon überwältigen zu lassen. Die zweite Psychologie bezieht sich auf die Weisheit zu
verstehen, wie Leid ausgehalten, gelindert und verhindert werden kann
(siehe auch
in
diesem Band). Im Mittelpunkt jeder Bemühung, Leid zu lindern und zu verhindern, steht ein Verständnis
der Quellen/Ursachen
von Leid. Und Ursachen verstehen zu wollen, ist natürlich die Grundlage von
Wissenschaft. Es steht außer Frage, dass Leid immer mehrere Ursachen hat. Verschiedene
biologische, psychische, soziale/kulturelle und historische Faktoren interagieren bei der Entstehung von
Leid und den Bedingungen, die Leid hervorrufen.
Die Evolutionspsychologie hat ihre ganz eigenen Perspektiven auf die Quellen/Ursachen von Leid.
Dazu zählt beispielsweise die, dass wir in gewissem Sinne alle als „Gen-Vehikel“ fungieren. Wir werden
aus der Kombination der elterlichen Gene geschaffen und dann geboren, um uns eine Weile zu
entwickeln. Später pflanzen wir uns fort und hinterlassen unsere Gene für den Bau neuer „Vehikel“,
verfallen dann und sterben schließlich. Für diese kurze Reise, die mit zahlreichen Herausforderungen,
Schwierigkeiten und Krankheiten belastet ist, hat uns die Evolution mit einem reichhaltigen Angebot an
Lebensaufgaben ausgestattet, die unser Überleben und das unserer Nachkommen unterstützen. Wir
müssen Gefahren erkennen und uns verteidigen. Und wir müssen herausfinden, was für unser
Überleben förderlich ist, wie beispielsweise Nahrung, Wohlgefühl, sexuelle Partner oder Verbindungen
zu anderen Menschen. Diese Lebensaufgaben und Motive werden durch unterschiedliche Emotionen
gefördert, die im Laufe unserer Lebensreise kommen und gehen, wie etwa Angst, Furcht, Paranoia,
Wut, Lust, Freude, Liebe oder Mitgefühl.
Unsere Gehirne sind nicht nur so ausgelegt, dass sie bestimmte Aufgaben erfüllen und bestimmte Arten
von Emotionen und Leidenschaften erleben können: Wir verfügen über ein sehr flexibles Gehirn, das
sich selbst so formen kann, dass es für bestimmte soziale Kontexte und Nischen geeignet ist. Der
soziale Kontext, in dem wir aufwachsen, beeinflusst unsere genetische Expression
ebenso wie die
neurophysiologische Reifung unserer Gehirne und Körper
Wir wissen, dass Menschen, die in einem
liebenden und fürsorglichen Umfeld aufgewachsen sind, mit großer Wahrscheinlichkeit mitfühlender
sind als Menschen, die aus einem vernachlässigenden oder feindseligen Umfeld stammen
Manchmal erzähle ich meinen Patienten das folgende Beispiel: Wenn ich als drei Tage altes Baby von
einer gewalttätigen Drogengang entführt worden wäre, würde die aktuelle Version des Paul Gilbert
wohl kaum existieren. Wahrscheinlich wäre ich selbst gewalttätig geworden, hätte vielleicht sogar selbst
Menschen schikaniert oder könnte tot oder im Gefängnis sein. Denn das ist das Schicksal der meisten
jungen Männer, die in ein solches Umfeld hineingeboren wurden. Dies veranlasst uns, darüber
nachzudenken, was wir eigentlich meinen, wenn wir die Vorstellung von einem „Ich“ mit bestimmten
Werten haben und damit das Gefühl verbinden, „eine bestimmte Art von Person zu sein“, obwohl doch
so viele andere Versionen von uns möglich wären – als Kreationen unserer Gene und unseres sozialen
Kontextes. Mitgefühl beginnt damit zu verstehen, wie willkürlich unser Selbstkonzept tatsächlich ist
[7]
(siehe auch
. So viele von uns sind in Lebensdramen (seien es nun psychische Störungen,
Krankheiten, Armut oder Stammeskriege) und Vorstellungen vom Selbst verstrickt, wie wir sie niemals
freiwillig wählen würden, aber in denen wir uns doch selbst vorfinden. Mitgefühl beginnt damit, diese
Tragödie inmitten der Menschheit zu erkennen – dass wir uns nämlich hier alle in einer
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