Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 121

Unser Team teilte ihr widerstrebend mit, dass wir ihren Suizid nicht unterstützen konnten, obwohl wir sie
liebten und respektierten. Wir waren rechtlich verpflichtet, „Hilfe zu holen“. Sie und ihre Lebenspartnerin
willigten schließlich ein, weder uns noch andere zu informieren, wenn sie erneut einen Suizidversuch
unternehmen würde. In dieser Art und Weise könnten sie den Dingen ihren Lauf lassen. Diese beiden
Frauen kennend, weiß ich, dass das eine harte Entscheidung war. Aber auch unsere Entscheidung fiel
uns nicht leicht. Es war ein Prozess, bei dem es darum ging, realistisch und schuldlos zu bleiben.
An einem Mittwochmorgen ging das Telefon. Unsere Freundin hatte versucht, sich das Leben zu
nehmen. Dieses Mal war sie in ein Wachkoma bzw. einen „vegetativen Zustand“ eingetreten. Als ihre
Lebensgefährtin mich anrief, dauerte dieser Zustand bereits vier Tage an. Ich fuhr direkt zu ihrem Haus.
Dort fand ich sie bewusstlos und in einem vollständig chaotischen Zustand vor. Sie atmete
ungleichmäßig, ihr Körper wälzte sich wie Treibgut in stürmischen Wellen hin und her. Die
Hospizschwester und meine Assistentin, die sie sehr gut kannten, baten mich, eine Zeit allein mit ihr zu
verbringen. „Sie würde das wollen“, sagten sie. Also setzte ich mich neben das Bett und nahm ihre
Hände in meine. Ihre Augen waren leer, ihr Körper wand sich und sie schwitze enorm. Ich begann,
mich mit meiner Atmung auf ihren Atem einzustellen, und sagte ihr, dass sie geliebt sei und dass es
okay wäre, wenn sie gehen würde. Wir atmeten gemeinsam und allmählich, fast unwahrnehmbar,
während ich ruhig immer wieder „ja“ zu ihrem Ausatmen sagte, verlangsamte sich ihr Atem und wurde
leichter und leichter, bis sie schließlich davon glitt und gehen konnte. Vielleicht verdeutlicht diese
Geschichte, was es tatsächlich bedeutet, diese Arbeit zu tun. Mitgefühl ist immer die Grundlage,
einschließlich des Mitgefühls für die eigene Begrenztheit in der Arbeit.
Die Essenz der CMC-Begleitung ist eigentlich die Fähigkeit, Gleichmut, Mitgefühl, Achtsamkeit und
Information in einer ausgewogenen Weise anzubieten, wobei das alles von Verständnis und
Wertschätzung begleitet wird. Hier ist eine weitere Geschichte, die verdeutlicht, was wir versuchen,
sterbenden Menschen zu geben.
Geschichte: Dies ist die verkürzte Geschichte von Matthew, bei dem ein Hirntumor diagnostiziert
worden war. Als Matthew schließlich an diesem Krebs starb, hatte er seine Abschiedswünsche bereits
mit seiner Familie und mit mir besprochen. Das ist ein wirklich wichtiger Teil der Arbeit, die wir als
mitfühlende Begleiter leisten. Es gilt, eine Atmosphäre zu schaffen, in der so viel Vertrauen, Mut und
Mitgefühl herrschen, dass auch schwierige Themen angesprochen werden können. Wir hatten uns mit
Matthew zu einem Familiengespräch zusammengefunden und dabei war die Frage aufgekommen, wie
Matthew sich den Umgang mit seinem Körper unmittelbar nach seinem Tod wünscht. Ich hatte Matthew
und seiner Familie bereits vorher beschrieben, welche Vorgehensweise wir dafür empfehlen. Er fand
diese Hinweise hilfreich und bat seine Freunde und seine Familie jetzt, es für ihn genau so zu gestalten.
Inmitten des dramatischen Ereignisses, den jeder Tod darstellt, eine solche Situation des Vertrauens
und der Leichtigkeit zu schaffen, ist wirklich von großer Bedeutung. Denn auf dieser Grundlage können
Ausgeglichenheit und Wahrnehmungsvermögen wachsen – zwei Wesensmerkmale des Mitgefühls.
Als Matthew dann starb, war ich nicht dabei. Doch als ich zwanzig Minuten nach seinem Hinübergehen
eintraf, um zu helfen, erlebte ich eine ruhige, sehr bewegende Szene der liebenden Anteilnahme. Seine
Lebensgefährtin wischte ihm vorsichtig den Schleim vom Mund. Seine Zwillingsschwester hielt seine
Hand und bedankte sich bei ihrem Bruder für alles, was sie von ihm gelernt hatte. Sein engster Freund
und die Hospizschwester hatten sich umarmt und beteten für ihn. Niemand rannte geschäftig umher
oder versuchte zu verschleiern, was gerade passiert war. Wir waren auf eine sehr ruhige Weise und
voller Mitgefühl mit dem Sterbenden verbunden.
Im Sinne einer CMC-Begleitung sollten Ärzte und Begleiter das Folgende mitbringen: Sie sollten
Wohlergehen, Einsicht, Mitgefühl und Selbstachtung wertschätzen, Herausforderungen und
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