Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 118

sondern um die Qualität des Lebens, das wir bei unserer alten Mitstudentin wahrnahmen. Wir konnten
ihr aufgrund unseres Trainings in Stille zuhören und sie so unterstützen. Ihr Sterben wurde von einem
tiefen Frieden begleitet.
Nicht-bewertende Akzeptanz für sich selbst und den Patienten:
•  Gesundes Gleichgewicht zwischen patienten-, mitarbeiter- und angehörigenorientierten Zielen
•  Gespür für die Wirksamkeit der Begleitung
•  Wertschätzung der Wesenszüge des Patienten
•  Reduzierung von selbstgesteuerten Bedenken
•  Weniger unrealistische Erwartungen des Patienten
Geschichte: Issan gründete das Hartford Street Zen Center und das Maitri AIDS Hospiz im Schwulen-
Viertel von San Francisco. Er selbst war nicht HIV-positiv, wollte aber unbedingt seinen Freunden
helfen, die um ihn herum sterben mussten. Issan war Buddhist und zutiefst mit Mitgefühl vertraut. Durch
Issans Arbeit mit sterbenden Menschen wurde mir deutlich, wie Buddhismus in der praktischen
Umsetzung für eine von einer Krise betroffene Gemeinschaft funktionieren kann – eine Gemeinschaft,
die in Mitgefühl aufblüht. In diesem Hospiz gab es keine Frömmelei. Statt dessen vibrierte das Hospiz
förmlich vor Energie, die von dem unsäglichen Leid ausging – und ließ sich nicht von ihm verzehren!
Einige Jahre nach der Gründung des Hospizes wurde bei Issan AIDS diagnostiziert. Wir hofften, dass
er noch lange leben würde. Doch es stellte sich heraus, dass ihm nur noch wenige Jahre blieben. Als
sich Issans Gesundheit verschlechterte, reiste ich aus Südkalifornien an, um ihn im Krankenhaus zu
besuchen. Obwohl ich schon viele sterbende Menschen erlebt hatte, war es nicht leicht für mich, Issan
sterben zu sehen. Er war für so viele Menschen da gewesen. Er war ein guter Freund und ein Vorbild
für mich. Sein Leben hatte uns alle gelehrt, was es bedeutet, ein wahrer Mensch zu sein; in einer Weise
für andere da zu sein, die jede Vorstellung vom „anderen“ verschwinden lässt. Manchmal war dieses
Verschwinden in Lachen eingehüllt, manchmal in Schweigen. Und manchmal blickten seine Augen
wirklich direkt in das Herz der Dinge.
Wie viele andere wollte auch ich, dass mein Freund weiterlebt. Ungefähr einen Monat vor seinem Tod
saß Issan eines späten Nachmittags dünn und zerbrechlich, in eine Krankenhausdecke gehüllt, in
seinem Bett. Ich saß auf der Bettkante und plötzlich war mein Gesicht von Tränen überströmt. Issan
legte seine Hand auf meine, schaute mich an und sagte: „Das ist nicht nötig“. In dieser Situation
verurteilte der Patient weder sich noch mich, und auch ich bewertete ihn nicht. Ich empfand eine
ungeheure Wertschätzung für Issans Mut und für seinen Humor, seine Weisheit und seine Liebe. Das
von uns gemeinsam erlebte Empfinden war nicht durch Bewertung sondern durch Respekt und Liebe
sowie von einem tiefen Begreifen der Realität der Vergänglichkeit getragen.
Emotionale Aufmerksamkeit für sich selbst und den Patienten:
•  Ansprechbarkeit auf die Bedürfnisse und Emotionen des Patienten
•  Exaktere Zuweisung von Verantwortung
•  Weniger abweisend gegenüber den Emotionen von Patienten und anderen Begleitenden
•  Weniger Rückzug/Ablehnung als Folge von negativen Emotionen (zum Beispiel Wut,
Enttäuschung, Scham, Trauer)
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