Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 120

Als John dann tatsächlich im Sterben lag, konnte er es einfach nicht glauben. Er entwickelte schließlich
eine Demenz. John starb einen schweren Tod. Hier machte ich die Erfahrung, dass unsere Gegenwart
manchmal alles ist, was wir geben können. Es steht nicht in unserer Macht, in den Ablauf von Leid,
Sterben und Tod einzugreifen. Und wir müssen als Begleiter auf diesem Weg auch auf uns selbst
achten.
Nach dem Tod seines Partners zog Kenny in ein winziges Zimmer in einem Sandsteinhaus in der
Bronx. Immer, wenn ich in New York war, besuchte ich ihn dort. An seinem Bett sitzend, hörte ich dann
immer seine ruhig vorgetragene Bitte, ihm beim Sterben zu helfen. Ich konnte verstehen, warum Kenny
sich das Leben nehmen wollte. Für ihn schien es keinen Sinn mehr zu machen. Er lebte größtenteils
allein in diesem winzigen, drückend heißen Zimmer in einer verwahrlosten Ecke New Yorks, wurde
selten besucht und hatte nur wenig Unterstützung. Die meisten seiner Freunde hatten ihn inzwischen
im Stich gelassen. Ich wusste aus meiner jahrelangen Arbeit, dass ein Rückzug von
Schwersterkrankten nichts Ungewöhnliches ist. Aber ich wollte das nicht.
Ich schlug Kenny vor, zu mir zu ziehen. Doch er lehnte das Angebot ab und sagte, er wolle in der Nähe
seiner Schwester an der Ostküste der USA bleiben. Am Ende hatte ich Kenny außer meiner Gegenwart
sehr wenig zu bieten.
Wir meditierten gemeinsam und teilten Augenblicke des tiefen Friedens. Eines Abends sagte Kenny zu
mir: „Weißt du, es ist jetzt Oktober. Im November werde ich zur Farm meiner Schwester fahren, mich
dort auf die Erde legen und sterben.“
Und genau das tat er. Er wählte den Zeitpunkt seines Todes und nahm sich das Leben. Er nahm es
sich friedvoll, genau in der Gegend, die er seit seiner Kindheit kannte und die er am meisten geliebt
hatte. Menschen, die in diesem Moment bei ihm waren, erzählten mir, dass er lange brauchte, bevor er
starb, dass er aber während der gesamten Zeit völlig präsent war. Als gute Freundin und Begleiterin
war es schwierig für mich, seine Entscheidung zu akzeptieren. Und dennoch war es wichtig, ihn in
seinem Wunsch und seiner Autonomie zu unterstützen. Um weiterhin mit ihm in Kontakt bleiben zu
können, musste ich meine Reaktion auf seine Situation, einschließlich seiner Entscheidung, sich das
Leben zu nehmen, bewusst regulieren.
Mitgefühl für sich selbst und den Patienten:
•  Zuneigung in Begleiter-Patient- und Kollegen-Beziehungen
•  Ein nachsichtigerer Blick auf die eigenen Begleitungsbemühungen
•  Ein weniger kompromissreicher Affekt in der begleitenden Beziehung
•  Weniger Selbstvorwürfe, wenn Begleitungsziele nicht erreicht werden
Geschichte: Eine ältere Frau bat uns um Unterstützung, da sie unter einer seltenen neurologischen
Erkrankung litt und sterben würde. Nach einigen Monaten eröffnete sie uns, dass sie mit ihren rasant
nachlassenden Fähigkeiten und ihren zunehmenden Schmerzen nicht mehr weiterleben wollte. Über
viele Monate hinweg suchten wir behutsam und konsequent nach Möglichkeiten, ihr größere Liebe und
Unterstützung anzubieten. Aber sie war entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen und versuchte
es mehrmals erfolglos. Jedes Mal, wenn sie Pillen geschluckt hatte, alarmierte ihre Lebensgefährtin
den Rettungsdienst, der sie wiederbelebte. Ihre Wut über diese Rettungsaktionen saß tief, da sie als
junge Frau in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht war und deshalb besonders wütend
reagierte, wenn andere über ihr Schicksal bestimmten. Es ging nicht um Liebe und Vernunft bei dem
Versuch, sie davon abzubringen, diesem Kreislauf des Elends ein Ende zu bereiten. Alle spirituellen
und praktischen Aspekte bedeuteten nichts angesichts ihrer Geschichte und ihres aktuellen Leids.
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