Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 114

Meine konkrete Tätigkeit in mitfühlender Sterbebegleitung begann ich 1970 als Medizinanthropologin
am Dade County Hospital der University of Miami School of Medicine in Miami, Florida. Dort fiel mir auf,
dass sterbende Menschen in diesem großen Krankenhaus die am stärksten ausgegrenzte Gruppe
waren. Da ich an der Entwicklung der Lehrpläne für die medizinische Fakultät beteiligt war, war es mir
ein Anliegen, ein Konzept der mitfühlenden Sterbebegleitung in das Curriculum dieses Hauses zu
integrieren. Dabei war ich mir der Belastung bewusst, die Ärzte und Sterbende im Zusammenhang mit
den existenziellen und psycho-spirituellen Fragestellungen in der Konfrontation mit Sterben und Tod
erleben.
1972 arbeitete ich mit dem Psychiater Stanislav Grof in einem Projekt unter der Schirmherrschaft des
National Institute of Mental Health zusammen, das sich mit dem Einsatz von LSD als Ergänzung zur
Psychotherapie beschäftigte. Dabei war für alle, die mit dem Tod konfrontiert wurden, die buddhistische
Betrachtungsweise der Impermanenz von besonderer Bedeutung. Und auch die buddhistische
Vorstellung von Mitgefühl wurde zur Grundeinstellung unserer Arbeit in diesem zeitgemäßen
Übergangsritual.
Im Laufe der Jahre lernte ich zahlreiche Programme und Lehrmethoden kennen, die Ärzten,
Pflegekräften und psychosozialen Berufsgruppen Wissen und Kompetenzen für die Sterbebegleitung
vermitteln. Doch trotz solcher – oft verhaltensorientierter – Lehrpläne beklagen die Mitarbeiter oft ihre
mangelnde Kompetenz in der psychosozialen und spirituellen Sterbebegleitung und berichten, dass sie
unter einem „Mitgefühlsdefizit“ leiden. Darüber hinaus schildern sie Schwierigkeiten, die oft mit
pathologischem Altruismus, Erschöpfung, Sekundärtraumatisierung, moralischen Fragen, belastender
Trauer sowie weiteren psychosozialen und existenziellen Problematiken zu tun haben. Auf der anderen
Seite nehmen Berichte über „Patientenunzufriedenheit“ zu und betroffene Patienten beklagen eine
mangelnde Empathie und fehlendes Mitgefühl bei Ärzten und Pflegekräften.
Im Laufe meiner inzwischen jahrzehntelangen Tätigkeit in diesem Bereich habe ich sechs
„Randzustände“ oder spezielle Herausforderungen identifiziert, von denen Klinikpersonal betroffen sein
kann. All diese Zustände sind mit positiven Potenzialen verbunden. Sie können aber auch sehr
negative Erfahrungen hervorrufen sowie Pflegende und Ärzte dazu veranlassen, aus ihrem Beruf
auszusteigen. Diese Zustände sind: 1) Pathologischer Altruismus: ein Übermaß an Altruismus, das dem
diese Situation Erlebenden seelisch oder körperlich schadet; 2) Burnout oder vitale Erschöpfung: sich
aufstauende Arbeitsanforderungen und Belastungen; 3) Sekundärtraumatisierung: Dysfunktion, die aus
einer Dauerbelastung durch das Leiden anderer hervorgeht; 4) Moralische Not: ethische Konflikte, in
die Ärzte und Pflegekräfte geraten, wenn sie wissen, was richtig ist, es aber nicht umsetzen können; 5)
Horizontale und vertikale Feindseligkeit: durch Respektlosigkeit gekennzeichnete und schikanierende
Verhaltensweisen von Mitgliedern einer Peergroup oder eigene Respektlosigkeit gegenüber denen, die
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