Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 124

Belastungen erkennen, sich für ein körperliches, emotionales, geistiges, spirituelles und
beziehungsorientiertes Gleichgewicht einsetzen und Strategien umsetzen, die die CMC-Begleitung
zugunsten der Sterbenden, der Gemeinschaft, der Kollegen und sich selbst am besten unterstützen. Es
gibt viele Beispiele dafür, warum CMC in der Sterbebegleitung so wichtig ist. Zum Abschluss dieses
Kapitels möchte ich hier eine weitere Geschichte vorstellen.
Geschichte: Hier folgt eine letzte Geschichte, die Mitgefühl als bedeutende Grundlage für die
Sterbebegleitung verdeutlicht. Als ich Mary, die von einem Lymphom betroffen war, zum ersten Mal
sah, war ich von ihrer Erscheinung berührt. Aufgrund der Chemotherapie hatte sie keine Haare, keine
Augenbrauen und keine Augenwimpern mehr. Aus ihrem Hals heraus bahnten sich riesige Tumoren
ihren Weg nach außen. Obwohl ihre Freunde mir erzählt hatten, Mary befände sich in einer
verleugnenden Haltung, fand ich ihre Verleugnung seltsamerweise strahlend. Während unseres ersten
Gesprächs beugte sie sich zu mir herüber und sagte: „Ich werde nicht sterben.“ In diesem Moment
wusste ich, dass sie die Wahrheit sprach.
Wenn wir uns von der Illusion verabschieden, dass es sich bei uns Menschen um für sich allein
stehende, getrennte Einheiten handelt, können wir durchaus zu der Schlussfolgerung kommen, dass
niemand von uns wirklich sterben wird. Eines Tages trafen sich alle Freundinnen von Mary. Es waren
ungefähr 25 Frauen. Als wir zusammen saßen, um miteinander zu beraten, stellte ich die einfache
Frage: „Was fühlt ihr?“ Ihre Antworten waren voller Leid und Enttäuschung – und das konnte ich
diesem Kreis von gutherzigen Frauen auch nicht verübeln. Irgendetwas lief für sie definitiv falsch und es
störte sie vor allem, dass Mary ihre Situation offensichtlich „verleugnete“. Außerdem war es ihnen noch
nicht so richtig gelungen, die Unterstützung und Begleitung ihrer Freundin gut zu organisieren. Sie
fühlten sich demoralisiert und sie schienen sich in einer anderen Welt zu befinden, die von Mary
getrennt war. Doch gleichzeitig liebten sie Mary und wollten ihr Bestes für sie geben, da sie jetzt starb.
Wir hörten einander intensiv zu und untersuchten den Aspekt der Verleugnung. Vielleicht war die
Verweigerung Marys, die Unabdingbarkeit ihres Todes anzuerkennen, ja in gewisser Weise auch eine
Spiegelung ihrer Einsicht in die Unsterblichkeit. Ich vermittelte ihnen diese Möglichkeit als Ansatz, die
verleugnende Haltung von Mary zu akzeptieren. Doch Marys Freundinnen konnten sich ihren
gemeinsamen Ängsten und Enttäuschungen nicht entziehen, nachdem diese erst einmal laut
ausgesprochen waren. Dennoch nahmen sie jetzt, während sie einander zuhörten, eine Position des
Mitgefühls für sich selbst ein und entwickelten ein größeres Verständnis für die Perspektive, die ihre
Freundin auf das Sterben hatte. Schließlich einigten wir uns auf etwas ganz Praktisches: nämlich die
Aufstellung eines Begleitungsplans für Mary.
In den folgenden Wochen erschien alles wesentlich reibungsloser zu verlaufen. Die Freundinnen
erschienen pünktlich bei Mary und nahmen sie einfach so, wie sie war. Auch ich hatte bestimmte Zeiten
des Besuchsplans übernommen und konnte mehrere Male pro Woche mit Mary zusammen sein. Dabei
hörten wir gemeinsam Musik, saßen still zusammen und sprachen manchmal über einfache spirituelle
Themen.
Mary blieb bis zum Augenblick ihres Todes in der „verleugnenden Haltung“ und starb ganz friedlich.
Ihre letzten Worte waren: „Ich sterbe nicht”.
Verleugnung lässt sich leicht als pathologische Erscheinungsform verurteilen. In der Sterbebegleitung
wissen wir aber nie, wann sie eine positive oder heilende Funktion haben kann. „Die Schwierigkeit“,
sagte einst der Philosoph Ludwig Wittgenstein, „besteht darin, sich die Grundlosigkeit unseres
Glaubens klar zu machen.“ Das ist echtes Nichtwissen. Tief im Innern wissen wir alle, dass wir sterben
werden. Und wenn wir durch die Verleugnung den Geist der Hoffnung oder Weisheit aktivieren, wie
Mary es tat, ist das unsere ureigene Angelegenheit. In bestimmten Situationen kann das eine enorme
Hilfe sein und Frieden in unser Leben bringen. In Marys Fall war das, was wir als „Verleugnung“
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