Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 115

in der Rangordnung niedriger eingestuft sind; 6) Strukturelle Gewalt: Gewalt im System, die einzelne
Betroffene oder ganze Gruppen an den Rand drängt oder schädigt.
Um diese komplexen Probleme und den grundlegenden Bedarf an Mitgefühl in der Sterbebegleitung
anzugehen, entwickelte ich 1996 ein Curriculum für die Ausbildung von Ärzten, Pflegekräften und
Mitgliedern psychosozialer Berufsgruppen in mitfühlender Sterbebegleitung unter der Bezeichnung
„Being With Dying: Professional Training Program in Compassionate End-of-Life Care“ (BWD).
Ergänzend dazu habe ich eine Typologie für Mitgefühl, ein Mitgefühlsmodell und eine
Mitgefühlsintervention entwickelt, die in einem anderen Kapitel dieses Buches beschrieben werden.
Das Modell (siehe
) und die G.R.A.C.E.-Intervention (siehe
sind zum Rückgrat
unserer BWD-Schulungen geworden und werden inzwischen auch in anderen Schulungsprogrammen
verwendet, in denen Ärzte und Pflegekräfte ein Mitgefühlstraining erhalten.
Im Austausch mit Ärzten, Pflegekräften und anderen professionellen Begleitern darüber, was für sie in
einer mitfühlenden Interaktion mit ihren Patienten wichtig ist, wurden ergänzend zum Modell zahlreiche
Merkmale genannt. Solche Aspekte sind vom Ausbilder Mark Greenberg in Verbindung mit einer
Achtsamkeits- und Mitgefühlsschulung in der Schule auch für Lehrer beschrieben worden. Diese
Aspekte lassen sich gut auf Pflegekräfte und Ärzte übertragen und fördern eine CMC (Contemplative
Mindful Compassion-based)-Begleitung. Im folgenden Absatz möchte ich anhand von persönlichen
Erlebnissen verschiedene Merkmale vorstellen und damit die praktische Bedeutung dieser Aspekte
herausstreichen:
Mit voller Aufmerksamkeit zuhören:
•  Die Verhaltenssignale des Patienten richtig wahrnehmen
•  Die verbale Kommunikation des Patienten genau verstehen
•  Reduzierte Verwendung und reduzierter Einfluss von kognitiven Konstruktionen und eigenen
Erwartungen
Geschichte: Ich besuchte eine ältere Zen-Schülerin, die nach einem schweren Herzinfarkt in die
Notaufnahme eines nahen Krankenhauses gebracht worden war. An Kabel und Schläuche
angeschlossen und ohne einen Rest an Privatsphäre fing sie an zu begreifen, dass sie jetzt vielleicht im
Sterben lag. Während das medizinische Personal sich geschäftig um sie bemühte, verfiel sie in einen
ruhigen, offenen und angstlosen Zustand. Sie hatte als Kind während des Zweiten Weltkriegs in Berlin
gelebt und sich damals geschworen, dem Tod offen und in Würde entgegenzutreten. Wir, die wir in der
Notaufnahme neben ihr saßen, hörten mit Respekt den von ihr geäußerten Anliegen zu und
bewunderten ihren Mut. Für uns waren die Auswirkungen ihres Trainings und ihrer Meditationspraxis
deutlich zu erkennen. Auch wir erlebten die stabilisierende Wirkung unserer Schulung in
Sterbebegleitung, als wir in dieser Krise bei ihr saßen. Und so konnten wir ihr und ihren Angehörigen
unsere volle beruhigende Aufmerksamkeit schenken.
Einige Jahre später wurde bei derselben Frau ein schnell wachsender Krebs diagnostiziert. Sie starb
sechs Tage nach der endgültigen Diagnose und erstaunte uns auch in dieser Situation mit ihrer ruhigen
Präsenz und Annahme. Wir waren bei ihr, hörten ihr zu, saßen in einer aufmerksamen und
mitfühlenden Stille bei ihr, als sie ihre letzten Worte sagte. Nachdem man ihr gesagt hatte, dass man
nichts mehr für sie tun konnte, ging sie einfach wie die Sonne am Horizont unter und ließ sich in das
tiefe Tal des Friedens gleiten. Sie ging schnell und würdevoll, wobei ihr die ihr eigene Gelassenheit
sehr zugutekam. Alle, die bei ihr waren, hatten das BWD-Training durchlaufen, was uns in die Lage
versetzte, die Wahrheit ihrer Situation anzunehmen. Gleichzeitig spürten wir diese Art von
mitfühlendem Optimismus, bei dem es nicht um das Überleben unserer sterbenden Patientin ging,
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