Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 105

die Teilnehmer an zu erforschen, ob sie von einem Mitgefühl für den anderen in Gefühle der Betrübnis
über ihre eigene Unfähigkeit im „Umgang“ mit dem Leid gerutscht sind. Ein derartig überwältigendes
Gefühl kann sehr schnell ausufern in einem Erleben des gesamten Leids in der Welt und es schließlich
unmöglich machen, sich dessen anzunehmen. Wenn ein solcher „naher Feind“ auftritt, sind wir in eine
eigene Geschichte gerutscht, statt die Anteilnahme für das Objekt des Mitgefühls aufrecht zu erhalten.
Wut.
Wenn wir uns mit einem Menschen beschäftigen, um den wir uns sorgen, entsteht nicht selten
eine gewisse Wut in uns. Denn in vielen unserer engsten Beziehungen spielen neben Liebe auch
ungelöste Konflikte eine Rolle. Statt sich analytisch mit den Wutgefühlen zu beschäftigen, ermutigen wir
die Teilnehmer jedoch dazu, diese Wutgefühle körperlich zu erleben – die natürlicherweise damit
verbundenen Erfahrungsveränderungen zu beobachten – und sich dann erneut darauf zu
konzentrieren, was an der Person liebenswert ist. Dabei geht es nicht um die Leugnung des Konfliktes,
sondern um die bewusste Entscheidung, sich in diesem Moment auf das Empfinden von Liebe und
Anteilnahme zu konzentrieren. Wenn das nicht möglich ist, hilft es oft, eine „leichtere“ Zielperson zu
wählen und zu einem späteren Zeitpunkt zu der ersten Person zurückzukehren.
Eine weitere Option im Umgang mit schwierigen Emotionen wie Angst, Trauer, Wut oder Betrübnis
besteht darin, unsere Aufmerksamkeit auf die Empfindungen im eigenen Körper zu richten statt auf die
Menschen und Orte, die sie hervorgerufen haben. Wenn wir einfach nur aufmerksam solche
Empfindungen beobachten, können wir sie manchmal stärker als energetische Veränderungen im
Körper erleben – mit grenzenlosen Möglichkeiten der Verwandlung. Wenn Menschen mit aktiven
Mitgefühlsübungen wie
Tonglen
beginnen, lernen sie, wie man emotionale Energie in eine mitfühlende
Motivation zum Heilen transformieren kann.
Liebe.
All den emotionalen Schwierigkeiten, die bei der Kultivierung von Mitgefühl entstehen können,
stehen grenzenlose Chancen gegenüber, von denen viele mit der expansiven Qualität der Liebe zu tun
haben, die man für andere entwickeln kann: das warme Licht und die enorme Energie der
Gemeinsamkeit. Die vorher dem eigenen inneren Kreis vorbehaltenen Gefühle strahlen dann nach
außen. Und sobald man das Potenzial für Wachstum und Gemeinsamkeit in die Welt trägt, verstärkt
sich der Prozess von selbst: Zunehmende Liebe wächst aus sich selbst heraus. Und das fühlt sich
einfach gut an! Das sollte man feiern und zugunsten des eigenen Wohlbefindens und des
Wohlergehens anderer nutzen. Doch welche Aufgabe hat dabei der Lehrer? Er unterstützt die Schüler
dabei, die Entstehung solcher Gefühle beim erstmaligen Auftreten zu bemerken und die Feinheiten
dieser Gefühle zu erforschen, um vertrauter mit ihnen zu werden, wenn sie erneut auftreten. Das ist
deshalb so wichtig, weil diese angenehmen Gefühle zu Beginn eines Mitgefühlstrainings durch weniger
angenehme Emotionen, wie Trauer oder Angst, überdeckt werden können. Und die Schüler sollten vor
der Erwartung gewarnt werden, dass diese herrlichen Gefühle immer wieder auftreten. Wenn man
Mitgefühl nur übt, um diese herrlichen Gefühle zu erleben, wird das Mitgefühl notwendigerweise
begrenzt.
Die Aufgabe besteht darin, alles zu erleben, also sowohl die reiche Vielfalt unserer Verbundenheit mit
anderen zu schätzen, als auch von solchen variierenden Gefühlsreaktionen zu lernen. Emotionen sind
eindeutige Indikatoren für das, was wichtig für uns ist
Fühlt man Angst? Vielleicht hat man dann
etwas Bedrohliches entdeckt. Fühlt man Trauer? Vielleicht hat man dann irgendeinen Verlust erlebt.
Emotionen stecken voller Informationen. Und genau die können wir in unsere Übung einfließen lassen.
Allgemeine Strategien für den Umgang mit Emotionen im Mitgefühlstraining
 Mitgefühl ist eine natürliche Reaktion des geöffneten Herzens. Im Laufe unseres Lebens eignen wir uns
jedoch Verteidigungsstrategien an, die unser Herz verschließen. Das Ziel jeder Mitgefühlsschulung ist
es deshalb, Menschen wieder mit ihrer natürlichen Fähigkeit der Anteilnahme in Kontakt zu bringen und
durch einen größer werdenden Mitgefühlskreis darauf aufzubauen.
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