Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 113

„Being with Dying“
„Es ist spät in der Nacht und ich bin in der Patientenaufnahme des Krankenhauses. Gerade, als ich
denke, dass ich für diese Nachteinsätze mit all dem Schlafentzug inzwischen eigentlich zu alt bin, liegt
eine Frau in ihrer ganzen Verletzlichkeit, Schutzlosigkeit und ihrem Schmerz vor mir. Meine Hände
untersuchen vorsichtig die tiefen Wunden in ihrer Brust und meine Ohren öffnen sich ihren Worten. Und
wieder einmal bricht mein Herz auf ... und in dieser Nacht spricht eine sympathische, 36 Jahre junge
Frau mit wild wucherndem, katastrophalem Brustkrebs von der Annahme ihrer Krankheit und der
Hoffnung für ihre Kinder. Sie spricht mit einer so unglaublichen Authentizität und Glaubwürdigkeit. Und
ich erlebe die Annahme dieser Krankheit durch diese junge Frau als die tiefste Demut, die ein Mensch
erfahren kann. Und dann weiß ich wieder einmal, warum ich nachts hier bin und mich in die
Gesellschaft Sterbender begebe.“
Dr. Gary Pasternak, Associate Faculty: Being with Dying
Gary Pasternak read by Joan Halifax
“Being with Dying”
1:23 min
Dies sind die Worte eines Palliativmediziners und ehemaligen Teilnehmers unseres
Trainingsprogramms in mitfühlender Sterbebegleitung am Upaya Institut. Dr. Pasternak hat sich
inzwischen unserer Ausbildungseinrichtung angeschlossen und leitet heute ein Hospiz in
Nordkalifornien. Dr. Pasternaks Worte spiegeln die inneren Werte wider, die einen großartigen Arzt
auszeichnen. Er verkörpert genau das, was wir bei Ärzten kultivieren wollen: dieses mitfühlende Herz
sowie tiefe Demut, Mut und Respekt. Als einer der ersten Teilnehmer unseres BWD(Being with Dying)-
Trainingsprogramms für Ärzte konnte uns Dr. Pasternak auch vermitteln, was Ärzte und Pflegekräfte im
täglichen Umgang mit Patienten, Familienangehörigen und den institutionellen Herausforderungen
tatsächlich brauchen. Wie viele andere Teilnehmer unseres Programms bestätigte er uns, was unserem
Ausbildungsteam schon bewusst war: Diese Arbeit mit sterbenden Menschen berührt die tiefsten
Werte, die wir als Menschen haben können, und lässt uns selbst auf das besinnen, was wirklich wichtig
ist.
Mir ist das schon lange klar – seit sich diese Welt durch die Begleitung meiner Großmutter während
einer tragischen Krankheit bis zu ihrem Tod auch mir eröffnet hatte. Ich kannte diese Welt zudem aus
meiner anthropologischen Arbeit in Afrika sowie in Nord- und Südamerika. Als Anthropologin und
Theologiestudentin hatte ich mich intensiv mit den Weltreligionen beschäftigt, wobei mich besonders
interessierte, was diese Lehren über Mitgefühl, Tod und Sterben sowie darüber beinhalten, was in der
heutigen Welt denen helfen könnte, die selbst mit dem Sterben konfrontiert sind oder sterbende
Menschen begleiten. Darüber hinaus hatte ich das Glück, Unterweisungen aus den buddhistischen
Schultraditionen
Theravada, Mahayana
und
Vajrayana
zu erhalten und deren Meditationen
kennenzulernen. Alle drei Traditionen haben meiner Erfahrung nach enorm viel dazu beizutragen, wie
man Ärzte und Pflegekräfte in eine mitfühlende Begleitung von alten, sterbenden und schwerstkranken
Menschen einführen könnte. Mir wurde auch bewusst, dass andere Kulturen oft wesentlich mitfühlender
und realistischer mit ihren Sterbenden umgehen als unsere eigene.
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