Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 119

Geschichte: Hier folgt der Brief eines Arztes, der an einem unserer Trainingsprogramme für
Klinikpersonal teilgenommen hatte, über einen seiner Patienten: „Seinem Lebensmotto getreu nahm
Steven den Kampf auf. Bis zum letzten Tag verlangte er kontinuierlich nach Sauerstoff. Als er nur noch
sehr mühsam atmen konnte (und schon lange nicht mehr ansprechbar war), stellten wir den Sauerstoff
ab. Ich war fest davon überzeugt, dass er in den nächsten Minuten sterben würde. Nein, Steven nicht.
Niemals den leichten Weg gehen. Er mühte sich immer noch ab. Aus Minuten wurden Stunden.
Familienangehörige und Freunde begannen, Gedichte vorzulesen – Blake, Wordsworth – und
bereiteten sich auf eine Nacht vor, die endlos zu werden schien. Irgendwann kam mir die Idee einer
Co-Meditation, aber ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte. Das ist jetzt zu spät, dachte ich. Doch
dann – und ohne darüber nachzudenken, was ich tat, und vor meinen Augen dieser nicht enden
wollende Todeskampf – begann ich in sein Ohr zu flüstern, meine Stirn fast auf seiner, meine Hand
sanft kreisend seine Brust berührend. Ich flüsterte ihm zu, dass er entspannen, seinen Atem
herunterregeln, sich leicht fühlen darf. Innerhalb weniger Minuten verlangsamte sich sein
Atemrhythmus, die Überanstrengung ließ nach. Nachdem einige Minuten später der Atem noch
langsamer geworden war und das Ende deutlich bevorstand, bat ich eine anwesende Frau, meinen
Platz an seiner Seite einzunehmen. Und während sie nun in sein Ohr flüsterte, starb er ruhig und
friedlich. Ein langer, harter Kampf war vorbei. Die Nacht war überstanden. Ein Mann war in eine andere
Welt hinein geboren.“
Dieser begnadete Arzt hatte eine solche Resonanz mit seinem Patienten gefunden und eine solche
Hingabe gezeigt. Ich kenne ihn gut und ich weiß, dass das, was er diesem Patienten gab und was er
von diesem Patienten lernte, sein Leben verändert hat.
Selbstregulation in der begleitenden Beziehung:
•  Emotionsregulation im Begleitungskontext
•  Begleitung in Übereinstimmung mit Zielen und Werten
•  Weniger Überreaktion/“automatische“ Reaktion oder Rückzug
•  Weniger Abhängigkeit von den Gefühlen anderer
Geschichte: Ich reiste mehrere Jahre zwischen Südkalifornien und Seattle hin und her, um bei John
und Kenny sein zu können, die beide an AIDS erkrankt waren. John starb zuerst. All unsere Liebe, der
Halt und die Unterstützung, die wir ihm gaben, unser Zuhören und unsere Gegenwart schienen ihm
wenig zu helfen. Und doch ging es nicht um ein Ergebnis.
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