Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 101

Der Umgang mit Emotionen im Mitgefühlstraining
In diesem Kapitel berichten wir von unseren Erfahrungen als Trainer und beschreiben, wie wir
Menschen im Umgang mit den während des Mitgefühlstrainings auftretenden emotionalen
Herausforderungen unterstützen. Wir greifen dazu auf unsere gemeinsamen Erfahrungen aus der
Weitergabe des Compassion Cultivation Training (CCT) [siehe
des Center for Compassion and
Altruism Research and Education (CCARE) an der Stanford University zurück.
In unsere Vorgehensweisen als Lehrer des Mitgefühlstrainings fließen unsere individuellen
Hintergründe und Werdegänge ein.
Erika Rosenberg
nimmt als Meditationslehrerin/-praktizierende und
als Wissenschaftlerin, die sich mit den Auswirkungen von Meditation auf unser Gefühlsleben
beschäftigt, eine einzigartige Position an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis ein.
Margaret Cullen
stieß ursprünglich zum CCARE-Team, um bei der Entwicklung des Lehrplans zu
helfen, nachdem sie Thubten Jinpa über das Mind and Life Institute kennengelernt hatte. Heute ist sie
leitende Ausbilderin am CCARE und mit der Ausbildung und Supervision von Multiplikatoren betraut,
die die Vermittlung des CCT erlernen.
Die emotionalen Herausforderungen des wachsenden Mitgefühls
Wenn Mitgefühl wachsen soll, muss man sich direkt mit dem Leid konfrontieren und sich ausreichend
davon berühren lassen, um sich selbst und andere davon befreien zu wollen. Dieser Prozess kann sehr
emotional verlaufen und von einer Vielzahl unterschiedlicher Gefühle, wie Trauer, Freude, Kummer
oder Liebe (um nur einige zu nennen), begleitet sein. Trainer können solche affektiven Veränderungen
beachten, fördern und nutzen, um wachsendes Mitgefühl zu ermöglichen.
Wir möchten aufzeigen, welch wichtige Rolle Emotionen für das Mitgefühlstraining spielen und einige
praktische Beispiele aus der unendlichen Vielzahl von Gefühlen beschreiben, die bei dieser inneren
Arbeit auftreten können. Unser Hauptaugenmerk gilt dabei der Frage,
wie
und
mit welchem Ziel
man in
einem Mitgefühlstraining mit Emotionen arbeiten kann. Dabei stellen wir Techniken aus unserer
Praxiserfahrung als Lehrer vor und beschreiben einige konkrete Übungen und andere Hilfsmittel aus
der Vermittlung von CCT (
.
Welche Gefühle treten bei der Kultivierung von Mitgefühl auf?
Es besteht die Gefahr, dass bei einer gezielten Kultivierung des Mitgefühls auftretende Emotionen zu
formelhaft beschrieben werden. Tatsächlich passieren jedoch einige vorhersagbare Dinge, wenn wir
Menschen einladen, eine engagierte Anteilnahme am Wohlergehen anderer zu entwickeln. Dazu wollen
wir nun einige Beispiele nennen.
Angst.
Bei vielen Mitgefühlsmeditationen wird das geistige Bild einer leidenden „Zielperson“ (eines
geliebten Menschen, eines Fremden oder eines Feindes) visualisiert. Dabei bitten wir unsere Schüler,
sich eine Person vorzustellen, von der sie wissen, dass sie leidet. Nun sollen sie versuchen,
wahrzunehmen, wie es sich anfühlt, diese Person leidend zu erleben. Wenn sie anfangen, sich mit dem
Leid dieser Person zu beschäftigen, ziehen sie sich oft automatisch – in einer Art natürlicher
Verteidigungsreaktion – zurück. Die Ursache dafür ist die Angst, das unangenehme Gefühl eines
anderen zu berühren und sich vielleicht sogar „anzustecken“ (mehr über die Angst vor Mitgefühl auch in
. Schüler dabei zu unterstützen, trotz eines solchen Rückzugsimpulses offen, geduldig und
präsent zu bleiben, ist entscheidend für die weiteren Fortschritte im Training. Es geht darum, die Angst
loszulassen – oder ihr zumindest Raum zu geben, damit sie sich allmählich auflösen kann – bevor man
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