Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 91

Barry Kerzin
"Tong Len Meditation"
2:58 min
Geduld und die Überwindung von Wut
Geduld ist im Wesentlichen die Einübung von Selbstbeherrschung auf der Grundlage von geistiger
Disziplin. In erster Linie geht es um die Beherrschung unserer Wut. Die Geduld ist der eigentliche
Gegenspieler oder die Gegenkraft zur Wut. Indem die Geduld unsere Wut abmildert und beseitigt, kann
auf natürliche Weise Mitgefühl entstehen. Der tibetische Begriff lautet
soe pa
, was üblicherweise mit
Geduld übersetzt wird. Aber er umfasst auch die Tugenden von Toleranz, Langmut und Versöhnlichkeit.
Seine tiefere Bedeutung ist die Fähigkeit, Leiden zu ertragen.
Soe pa
impliziert, dass wir unserem
instinktiven Zwang, reflexartig und in verletzender Weise auf unseren Schmerz zu reagieren, nicht
nachgeben können. Allerdings hat
soe pa
nichts mit Passivsein oder Unfähigkeit zu tun. Es heißt nicht,
dass es uns an der Stärke oder der Fähigkeit mangelt, uns zu wehren. Es heißt auch nicht, dass wir die
Zähne zusammenbeißen und Ungerechtigkeit widerstrebend aushalten. Stattdessen erfordert die echte
Geduld Stärke und Mut. Zur Disziplinierung des Geistes brauchen wir Stärke und geistigen Mut.
Geistige Disziplin hilft uns dabei, schädigende Lebensweisen, insbesondere Wut, einzuschränken.
Geduld unterbricht unsere automatische und reflexartige Reaktion aus Vergeltung und Wut. Geistige
Disziplin erfordert von uns eine umfassendere, ganzheitlichere Perspektive, die uns einen Überblick
über die Gesamtsituation verschafft. Dies eröffnet uns den emotionalen Raum, uns von Wutgefühlen zu
distanzieren. Denn wenn wir emotionalen Raum haben, lassen wir uns nicht mehr in eine emotionale
Ecke sperren. Wir lernen, uns nicht mit der Wut zu identifizieren, sondern die Wut ziehen zu lassen,
ohne daran festzuhalten. Wir stellen uns unsere Wut einfach wie eine natürlich am Himmel
weiterziehende Wolke vor. Indem wir uns nicht eng mit der Wut identifizieren, können wir sie ziehen
lassen. Durch diese Visualisierung entstehen Distanz und Raum zwischen uns und unserer Wut. Und
so können wir uns von ihr lösen und haben mehr Raum zur Entspannung. Dies führt außerdem dazu,
dass wir davon ablassen, uns mit der Wut als „ich“ oder „mein“ zu identifizieren. Hier hilft es, zwischen
der Person und der Handlung zu unterscheiden. Das ermöglicht es uns, auch dann tolerant und
versöhnlich gegenüber einer Person zu reagieren, wenn wir ihre Handlung nicht gutheißen. Bei sehr
schädigenden Handlungen ist möglicherweise eine rechtmäßige Bestrafung erforderlich. Und dann wird
natürlich die Person, die diese Handlungen durchgeführt hat, bestraft. Dennoch behalten wir unsere
Achtung und unser Mitgefühl für die Person, die den Schaden verursacht hat. Denn wir sind alle
Menschen und machen Fehler. Gleichzeitig verfügen wir über das erstaunliche Potenzial, zu besseren
Menschen zu werden.
Wollen wir Wut überwinden, sollten wir über ihre Nachteile nachdenken. Das stärkt unsere
Entschlossenheit zur Einübung von Geduld. Intensive Momente der Wut bereiten uns zu einem
späteren Zeitpunkt enorme Schwierigkeiten.
Unsere Geschichte der förderlichen, gesunden Handlungen wird ausgelöscht. Die dienlichen, guten
Ergebnisse unseres Gutseins stehen uns dann nicht mehr zur Verfügung. Darüber hinaus wirkt sich
Wut tückisch und zerstörerisch auf unsere Stimmung und unseren gegenwärtigen Zustand des
Glücklichseins aus. Wiederholt auftretende Wut untergräbt allmählich und stetig unseren inneren
Frieden. Sie beraubt uns unserer Klarheit, wir verlieren unseren Panoramablick, unsere Gedanken
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