Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 94

werden getrübt und unsere Wahrnehmung verengt sich. Wut behindert unsere natürliche Gabe,
Empathie zu empfinden, welche unsere Quelle des größten Glücks ist. Tatsächlich lässt sich wohl
sagen, dass alle Gewalttätigkeiten und Zerstörungen in der Welt das Ergebnis von Aggressionen sind,
die auf Wut und Hass basieren. Die verheerenden Folgen von Wut und Hass sind im Bereich der
häuslichen Gewalt deutlich zu erkennen. Sie sind zudem die Quelle von Gewaltausbrüchen und Krieg
zwischen Gemeinschaften. Wut entsteht oft aus einer tieferen, inneren Unzufriedenheit. Im Tibetischen
wird dieser latente Zustand eines Mangels an Zufriedenheit und Reizbarkeit als
mi dewa
bezeichnet. Es
ist ein allgemeiner Grundzustand des Unbehagens, der für einen Ton oder, wie Dr. Paul Ekman (siehe
sagen würde, eine Stimmung sorgt, in der Fackeln von Wutemotionen unterwegs sind. Und
diese Unzufriedenheit macht uns anfälliger für destruktive Gefühle, insbesondere von Wut.
Unzufriedenheit in unserem Leben ist der Brennstoff, der das Feuer destruktiver Gefühle, wie Wut,
Feindseligkeit oder Hass, anfacht. Genauso, wie man die Funken besser bekämpft, bevor ein Feuer
entsteht, kann man durch das Erkennen einer grundlegenden Stimmung von Unzufriedenheit den
Ausbruch von Wut beherrschen lernen. Bei einer Betrachtung aus dieser neuen Perspektive beginnen
wir zu entdecken, dass sich diese zerstörerischen Emotionen kontinuierlich selbst nähren. Je mehr sie
genährt werden, umso stärker werden sie. Zur Bewältigung solcher sich selbst erhaltenden destruktiven
Emotionen hilft es, unsere Aufmerksamkeit auf unser Inneres zu richten. So machen wir uns immer
mehr mit unseren eigenen Neigungen und Gewohnheiten vertraut. Und statt andere Menschen und
schließlich die ganze Welt zu beschuldigen, werden wir reifer und arbeiten an uns selbst. Der große
buddhistische Meister des achten Jahrhunderts, Shantideva
verdeutlicht diesen Aspekt sehr gut,
wenn er beschreibt, wie mit Wut umzugehen ist. Wenn wir unsere Füße vor Verletzungen durch Dornen
schützen wollen, wäre es dumm zu versuchen, die ganze Welt in Leder zu hüllen. Angemessener wäre
es, die Sohlen unserer eigenen Füße mit Leder zu bedecken. Und genauso ist es ein Fehler zu denken,
dass wir unseren Ärger und unsere Wut loswerden, indem wir alles und jeden um uns herum
verändern. Es ist viel besser, wenn wir uns selbst ändern.
Mitgefühl als Seinsweise verurteilt auf natürliche Weise falsche Handlungen und begegnet ihnen mit
allen erforderlichen Mitteln. Gleichzeitig bewahrt Mitgefühl den Respekt vor der anderen Person, die
solche verletzenden Handlungen durchgeführt hat. Versöhnlichkeit bedeutet nicht zu ignorieren oder zu
vergessen, sondern ist ein Weg des Umgangs mit Fehlverhalten, der zum Seelenfrieden führt.
Gleichzeitig hindert sie uns daran, den schädlichen Impulsen der Vergeltung zu erliegen. Wenn wir die
Tat von der Person, die die Tat begangen hat, unterscheiden können und die Situation in ihrer
Gesamtheit erfassen, kommen wir zu dem Schluss, dass auch die Person, die den Schaden verursacht
hat, unser Mitgefühl verdient. Denn sie hat in Zukunft schwerwiegende und schmerzhafte Folgen ihrer
verletzenden Handlungen zu erwarten. Die Einübung von Geduld und Versöhnlichkeit wirkt enorm
befreiend für uns. Ich erinnere mich daran, wie ich mich fühlte, als ich die Geschichte des irischen
Jungen Richard Moore hörte. Wenn wir bei dem Schmerz verweilen, den uns jemand zugefügt hat,
werden wir wütend und aufgebracht. Weder das Verhaften in schmerzvollen Erinnerungen noch die
Verankerung von Groll können das uns zugefügte Falsche ungeschehen machen. Ein solcher Ansatz
hilft nicht weiter. Im Gegenteil: Unser Seelenfrieden wird gestört und wir können nicht gut schlafen.
Unser Immunsystem wird geschwächt und letztendlich leidet unsere körperliche Gesundheit darunter
(siehe
and
. Wir entwickeln Herzprobleme und erleiden mehr Unfälle. Wenn wir
aber in der Lage sind, unsere Gefühle der Feindseligkeit gegenüber denen, die uns verletzt haben, zu
überwinden und ihnen zu vergeben, spüren wir einen unmittelbaren und wahrnehmbaren Gewinn. Wir
atmen leichter und werden entspannter, der innere Friede und die Zuversicht blühen auf. Das ist meine
Erfahrung. Es fühlt sich an, als ob ein schweres Gewicht von den Schultern gehoben würde. Mein
Körper fühlt sich leichter an und die ganze Welt erscheint heller. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich
mich nach vorne bewegen und mein Leben fortsetzen kann.
Beharrlichkeit
 Beharrlichkeit bedeutet, niemals aufzugeben, auch nicht angesichts von Widrigkeiten. Beharrlichkeit
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