Alternative Wege zur Kultivierung von Mitgefühl
Einleitung
Wenn man sich der Kultivierung des Mitgefühls auf verschiedenen Wegen nähert, ist ein besseres
Ergebnis gewährleistet. Wir können Mitgefühl nicht nur direkt, sondern auch indirekt praktizieren. Mit
diesem zweigleisigen Ansatz lässt sich die die Kultivierung des Mitgefühls optimieren. Indem wir die
Hindernisse des Mitgefühls verringern oder sogar beseitigen, erweitern und läutern wir unser Mitgefühl
so, dass weniger Bedingungen und Erwartungen daran geknüpft sind. Solche Hindernisse haben ihre
Ursachen in unserem Egoismus. In diesem Kapitel möchte ich alternative Wege – über Großzügigkeit,
Versöhnlichkeit und Geduld – zum Mitgefühl erläutern und den Blick auf die Erfahrung der Kultivierung
dieser positiven Gefühle richten.
Großzügigkeit
Großzügigkeit ist der natürliche, äußere Ausdruck einer inneren Haltung von Mitgefühl und liebender
Güte. Großzügigkeit bezieht sich nicht nur auf ein Geben im materiellen Sinne, sondern auch auf eine
Großzügigkeit des Herzens. Großzügigkeit bricht unser enges Korsett des Geizes auf, der alles für sich
selbst behalten und horten möchte. Der Geiz fühlt sich sehr selbstsüchtig an und hindert uns daran, mit
anderen zu teilen. Dies gilt nicht nur auf materieller Ebene, sondern auch im Sinne von emotionaler
Unterstützung, Schutz und Liebe. Großzügigkeit kann also unterschiedliche Formen annehmen. Zum
einen geht es dabei um die Weitergabe von materiellen Dingen. Doch zum zweiten bedeutet
Großzügigkeit auch das Angebot der Freiheit von Angst, indem man Sicherheit und Schutz bietet. Das
Angebot von Sicherheit erfolgt oft auch auf emotionaler Ebene, beispielsweise über ein
unvoreingenommenes Zuhören und eine wirklich aufrichtige Anteilnahme. Zum dritten bedeutet
Großzügigkeit aber auch das Angebot von seelischem Beistand, also von Rat und Orientierung, um im
Kontext von Interdependenz ein größeres Bild sichtbar werden zu lassen. In diesem Sinne ist
Großzügigkeit eine Orientierungshilfe, um die Situation aus mehreren Perspektiven betrachten zu
können. Gleichzeitig bietet diese Orientierungshilfe Rat, um destruktiven Gefühlen begegnen zu
können. Und zum vierten geht es darum, Liebe zu geben. Durch eine allmähliche Ausdehnung unserer
Großzügigkeit reduzieren wir unser egoistisches Verhalten. Und je weiter sich unsere Großzügigkeit
ausdehnt, umso mehr öffnet sich unser Herz und kann sich echte Anteilnahme für andere entfalten.
Lassen Sie mich Ihnen eine Erfahrung schildern, die ich selbst mit dem Geben gemacht habe, als ich
meinem Lehrer einen erheblichen Teil meiner Ersparnisse schenkte. Zunächst war diese Vorstellung für
mich ziemlich beängstigend und ich fragte mich: „Was werde ich ohne das Geld tun?“ Dann entschloss
ich mich, das Geld trotzdem zu verschenken. Und danach fühlte ich mich so gut und glücklich, dass ich
später sogar noch mehr gab. Es fühlte sich an, als ob ein Gewicht von meinen Schultern verschwunden
wäre. Meine Brust schien sich zu öffnen, sodass ich viel tiefer atmen konnte. Bis heute habe ich diese
Geschichte für mich behalten und sie wie ein Juwel in meinem Herzen bewahrt.
Für die Reichen hat Reichtum über ein bestimmtes Maß hinaus keinen echten Wert, wenn dieser
Wohlstand nicht einem guten Zweck zugute kommt. Sobald ein bestimmter Punkt überschritten ist,
haben noch größerer Luxus und noch mehr Extravaganz keinen wirklichen Einfluss mehr auf unser
Wohlbefinden – dann wird Wohlstand nur noch zu bloßen Zahlen auf dem Papier oder auf
Computerbildschirmen. Doch selbst für Menschen mit begrenzten Mitteln hat eine großzügige Haltung
enorme Vorteile, weil sie das Herz öffnet und ein Gefühl der Mitfreude und Verbindung zu anderen
schafft, wie ich in meiner obigen Geschichte beschrieb. Großzügigkeit kann in jede Aktivität einfließen
und zu einer Lebensweise werden. Wenn ich offen bin, möchte ich meine Freude mit allen, denen ich
begegne, teilen. Natürlich ist auch mein Herz nicht immer in dieser Weise geöffnet, aber manchmal ist
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