Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 80

auf sich selbst. Sie verachten oder hassen sich oder Teile von sich. Öfter liegt in diesen Fällen ein
Missbrauchshintergrund vor. Solche Menschen erleben den Umgang mit starken Gefühlen oft als
schwierig und greifen manchmal auf selbstverletzendes Verhalten zurück, um den Gefühlen von
Selbstmissachtung und Selbsthass Einhalt zu gebieten. Eine Patientin, die als junges Mädchen sexuell
missbraucht worden war, sagte: „Ich hasse alles an mir selbst. Ich hasse es, wie ich aussehe. Ich
hasse die Gefühle, die sich anfühlen, als ob sie mir meinen Kopf zersprengen. Ich hasse mich dafür,
dass es mich gibt!“ Für sie war der Weg zum Mitgefühl äußerst schmerzhaft, weil Mitgefühl das
Verständnis voraussetzt, dass Hass immer aus Verletzung entsteht. Wir hassen das, was uns verletzt,
und müssen deshalb verstehen, wo genau wir verletzt worden sind. Selbsthass kann auch eine Angst
vor sadistischen Gefühlen gegenüber anderen verdecken (die man möglicherweise aus einem
Missbrauchs-hintergrund mitbringt). Wenn man dann einen Weg sucht, sich geliebt zu fühlen und zu
lieben, kann das Auftauchen solcher Gefühle als sehr schwierig erlebt werden. Aber wir können sie als
Teil des gemeinsamen Menschseins anerkennen – tragischerweise wurden sie in der Geschichte der
Menschheit viel zu oft ausagiert. Sie sind wirklich nicht angenehm, aber auch nicht unser persönlicher
Fehler, sondern hängen damit zusammen, wie unser Gehirn funktioniert. Wenn wir das verstehen,
fürchten wir uns weniger vor ihnen und können ihnen vielleicht sogar mitfühlender begegnen und
müssen sie nicht mehr ausagieren. Und die Unternehmernaturen unter uns nutzen ihre Fähigkeit zu
sadistischen Fantasien einfach dazu, Bücher zu schreiben und eine Menge Geld damit zu verdienen!
Wenn Menschen sich selbst hassen, kann das Selbstmitgefühl blockiert sein. Das liegt daran, dass sie
Mitgefühl zu allererst gering schätzen und als Schwäche auffassen und etwa denken: „Warum sollte ich
mitfühlend zu etwas sein, das ich hasse und loswerden möchte?“ Sie hassen sich selbst, weil sie dem
Missbrauch keinen Einhalt geboten haben, weil sie ihre Drogensucht nicht in den Begriff bekommen,
weil sie zu dick sind und es nicht schaffen, weniger zu essen, oder weil ihr Kopf voller schrecklicher
sexueller oder aggressiver Fantasien oder Handlungen ist. Aber genau an diesen Punkten wird
Mitgefühl zu einem absolut wesentlichen Prozess. Und wenn wir unsere Gehirne auch hier in einem
evolutionären Kontext betrachten, den wir nicht gewählt haben, und uns als soziale Kreation sehen, die
wir nicht ausgesucht haben, fällt uns Mitgefühl leichter. Wir können Abstand nehmen und erkennen,
dass wir für all diese Schrecken und Ängste im Kopf Mitgefühl brauchen. Denn sie sind ein universelles
menschliches Problem. Und weil Mitgefühl mit dem Wunsch verbunden ist, Leiden zu verhindern und zu
lindern, ist es so entscheidend, diese Aspekte in unseren Köpfen zu verstehen und zu begreifen, wie
man mit ihnen arbeiten kann, statt sie zu unterdrücken. Manchmal werden destruktive Gefühle als Gift
betrachtet, was aber eine schlechte Analogie ist. Denn ein Gift ist ein Fremdkörper, der ausgeschieden
und herausgeschwemmt werden muss. Destruktive Gefühle sind aber für den Körper definitiv nicht
fremd und können auch nicht ausgeschieden oder herausgeschwemmt werden. Sie erfordern eher
Mitgefühl und Weisheit, damit wir ihre Herkunft verstehen und begreifen, wie sie in uns arbeiten. Denn
sie sind eine Möglichkeit in uns, mit der wir uns vertraut machen können und gegen deren Ausagierung
in der Welt wir uns bewusst entscheiden können.
Angst vor Mitgefühl für andere und die Menschheit
 Mitgefühl für andere ist komplex und kann mit dem Wunsch, andere Menschen zu retten (etwa im
Rettungsdienst), mit Mut, mit moralischen Werten und mit der Art zusammenhängen, wie wir über
Gerechtigkeit und Fairness denken und uns dafür einsetzen. Zu lernen, das eigene Mitgefühl (also die
Sensibilität für Leid und den Versuch, etwas dagegen zu tun) auf andere zu richten, die wir lieben, ist
noch relativ einfach. Viel schwieriger wird es hingegen bei Menschen, die wir nicht kennen – die
möglicherweise in einem anderen Land leiden – und natürlich bei Menschen, die wir nicht mögen oder
die uns verletzt haben. Das hängt teilweise damit zusammen, dass unser entwickelter Verstand weit
stärker dazu beitragen will, Nahestehenden zu helfen als Menschen in der Ferne, und stärker auf
Vergeltung und Rache ausgerichtet ist als auf Vergebung. Manche Menschen reden zynisch über den
Wert von Mitgefühl und sind davon überzeugt, dass wir Menschen mit unserem Mitgefühl schwächen
oder diese unser Mitgefühl ausnutze
Andere bezeichnen Menschen grundsätzlich als eine
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