Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 70

Und selbstverständlich ist auch unsere Güte gegenüber anderen manchmal blockiert, weil wir finden,
dass sie unsere Freundlichkeit nicht verdient haben oder ganz einfach nur ausnutzen würden.
Die Frage des Verdienens und die verleugnete innere Welt
Mitgefühl hat sich entwicklungsgeschichtlich mit der Mutter-Kind-Bindung der Säugetiere und
freundschaftlich motivierter Zuwendung entwickelt. Die Wurzeln liegen in der Fähigkeit zu affiliativen
Empfindungen, zur Liebe und zum Geliebtwerden (siehe
. In der Tat haben Forscher jetzt
nachgewiesen, dass wir physiologisch am besten reguliert sind, wenn wir uns geliebt, erwünscht und
verbunden (statt ungeliebt oder allein) fühlen und selbst lieben (statt gleichgültig, ablehnend oder sogar
hasserfüllt zu sein)
Doch weshalb werden dann diese für uns so wichtigen Qualitäten so häufig
blockiert? Warum empfinden wir es als so schwierig, uns selbst geliebt zu fühlen und andere zu lieben?
Dafür gibt es natürlich viele Gründe. Aber unsere Forschung hat gezeigt, dass eines der Kernprobleme
mit
Scham
zusammenhängt
Wenn wir uns vorstellen, wir würden ganz und gar geliebt, fühlt
vielleicht ein Teil in uns: „Ja, aber
dieser Teil
von mir oder
diese Gefühle
oder
jene Fantasien
oder
diese früheren Taten
sind schlecht und dafür kann man kein Mitgefühl haben.“
Das ist natürlich tragisch, weil genau deshalb Mitgefühl so wichtig ist. Wir brauchen Mitgefühl für den
Umgang mit einer Vielzahl von Wünschen, Fantasien, Ängsten, Wutgefühlen, Hass oder traumatischen
Erinnerungen, die sich sehr schlecht anfühlen und die wir verleugnen oder vor denen wir weglaufen
wollen. Freud betrachtete diese Situation als Grundlage von Verdrängung und als Versuch, bestimmte
Gefühle und Fantasien aus der Reichweite unseres Bewusstseins auszuschließen. Wenn wir eine
Vorstellung vom eigenen Selbst kreieren, kreieren wir auch eine Vorstellung von dem Selbst, das
wir
nicht sein wollen
und von dem wir auch nicht wollen, dass andere es kennen. Und genau diese Aspekte
unserer Seele verbannen wir in die Schattenwelt und halten sie vor dem Licht des Mitgefühls
verborgen. Dies ist oft die Grundlage des Gefühls, „etwas nicht zu verdienen“, weil wir es nicht wert
sind, nicht gut genug sind oder nicht „rein und charakterstark“ genug sind.
Wenn wir Mitgefühl und Klugheit im Kontext des Evolutionsmodells (siehe
betrachten,
begreifen wir, dass wir diese Wünsche, Fantasien, Hassgefühle und Begierden aufgrund unserer
Existenz als entwickelter, genetisch erzeugter Mensch haben, der in einem bestimmten sozialen Umfeld
aufgewachsen ist – was beides nicht in unserer Verantwortung liegt. Keine unserer Fantasien wurde
nicht bereits zu irgendeinem Zeitpunkt von Millionen anderen Menschen erlebt. Mit dieser Einsicht
lassen sich diese inneren Erfahrungen sehr gut ent-personalisieren und ent-schämen. Und mit weniger
Scham, weniger Selbstverurteilung und Selbsthass sowie durch Entwicklung von Mitgefühl können wir
uns auch diesen dunkleren Aspekten unseres entwickelten Verstandes zuwenden und vertrauter mit
ihnen werden (während unsere Scham uns zur Flucht antreibt). Dann lernen wir zu verstehen, wie
diese dunklen Aspekte in uns arbeiten. Wir identifizieren uns nicht mehr übermäßig mit ihnen und
können uns bewusst dafür entscheiden, sie nicht unüberlegt auszuagieren. Möglicherweise spüren wir
dann Ärger, Angst oder Begierde aufkommen, können diese aber mitfühlend als Konstruktion unseres
Verstandes wahrnehmen. Mitgefühl hat also nichts mit einem Aufstieg in einen engelsgleichen, reinen
Zustand zu tun, sondern mit dem Abstieg in die dunkleren Bereiche unserer Seele – die Jung als das
Schatten-Selbst bezeichnet hat
Selbstvergebung
Mitgefühl ermöglicht Selbstvergebung, wenn man versteht, dass Vergebung ein Prozess ist, der
zunächst mit Enttäuschung oder sogar Selbsthass wegen früherer Taten beginnen kann. Der Soldat,
der eine Panikattacke bekam und sich hinter einer Mauer versteckte, statt den Feind zu erschießen und
seine Kameraden zu schützen, oder der Soldat, der auf den Feind schoss und feststellte, dass er eine
Familie mit Kindern getötet hatte, oder ein Drogenabhängiger, der seine Familienangehörigen bestielt
und aggressiv ist – sie alle sind in Lebensdramen verwickelt, die sie nie freiwillig gewählt hätten.
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