Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 65

Tränen in die Augen geschossen, wenn Schüler etwas berichteten, das sie zum Weinen brachte. Und
ich war in der Lage, meine Gefühle sichtbar werden zu lassen und meinen Schülern dadurch zu zeigen,
dass es in Ordnung ist, sich anderen gegenüber zu öffnen. Dieses Programm hat dazu geführt, dass ich
mich mit meinen eigenen Gefühlen wohl und entspannt fühle und deshalb selbst ein besserer Zuhörer
und ein freundlicherer Mensch bin. Ich schlafe sogar besser und ich glaube, das hängt damit
zusammen, dass ich mit dem Gedanken einschlafe, dass ich am Tag etwas Schönes zustande
gebracht habe.“
Man kann sich zwar kaum vorstellen, dass Mitgefühl, Versöhnlichkeit und emotionales Gleichgewicht
für Lehrer (oder irgendjemand anderen!) ungeeignet sein könnten. Dennoch haben wir die Erfahrung
gemacht, dass dieser Weg nicht für jeden der richtige ist. Deshalb hoffen wir, dass Sie von unseren
Erfahrungen und Fehlern lernen können. Bei den vielen unterrichteten Programmen hatten sich die
Lehrer – mit Ausnahme von zwei Fällen – selbst für eine Teilnahme am Programm entschieden. Das ist
eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg. Wer ein solches Programm wählt, ist bereits geneigt,
Introspektion, Selbsterfahrung und tugendhafte Qualitäten wie Güte oder Mitgefühl zu schätzen. Wenn
Teilnehmer skeptisch sind, dient diese Skepsis dazu, eigene Widerstände herauszufordern. Zudem hilft
Skepsis allen Teilnehmern dabei, die Hindernisse, die einem größeren seelischen Gleichgewicht und
einer Offenherzigkeit im Wege stehen, anzunehmen und zu verstehen.
Ich habe zwei Situationen erlebt, in denen Teilnehmer sich nicht selbst für die Teilnahme am Programm
entschieden hatten. Das hat enorme Probleme verursacht. Die erste (und schwierigste) Situation war
ein Wochenendintensivprogramm, zu dem ein neuer Schulleiter das gesamte Kollegium in der Hoffnung
verpflichtet hatte, die Kultur an seiner Schule verändern zu können. Darüber hinaus hatte er die Lehrer
im Voraus nicht darüber informiert, was geplant war, sodass sie mit völlig anderen Erwartungen
eintrafen. Für mich zählt dieses Erlebnis zu den Tiefpunkten meiner eigenen Lehrtätigkeit. Doch
gleichzeitig entwickelte ich ein ganz neues Maß an Mitgefühl für alle Lehrer, die mit gelangweilten,
desinteressierten und schwierigen Schülern arbeiten müssen. So bewegte sich die eine Hälfte der
Gruppe in die vordere Hälfte des Raumes und war mit vollem Elan und interessiert bei der Sache,
während die andere Hälfte hinten blieb, flüsterte, lachte, den Raum verließ, sich mit Spielen die Zeit
vertrieb und sich mit Spielzeugen und Papier bewarf. Leider wirkte diese Veranstaltung eher spaltend
als vereinend, da die Geringschätzung der beiden Gruppen für einander zunahm und diese
Veranstaltung der Anfang vom Ende für diesen Schulleiter wurde.
Im zweiten Fall boten wir das Programm als „College-Credit“ in einer großen Stadt in Colorado an.
Damals wirkten sich solche Kursguthaben auf das Gehaltsniveau der Lehrer aus, weshalb sie von
mehreren Lehrern als einfache Möglichkeit genutzt wurden, eine Gehaltserhöhung anzustreben. Dass
sie das in unserer Eröffnungsrunde offen zugaben, vereinfachte die Situation nicht: Sie redeten
während der Meditation, verließen geräuschvoll den Raum, checkten ihre Handys oder brachten in
einem Fall tatsächlich Buntstifte mit, um während der Meditationen zu malen!
Jenseits der Notwendigkeit der Selbstentscheidung sind diese Programme so ausgelegt, dass sie
persönliche Entwicklungen fördern und emotionalen Schmerz sowie ungelöste Probleme aufdecken
können. Wenn der Anleiter bzw. die Anleiterin gut geschult ist, tief in ihr eigenes Herz und ihren Geist
geschaut hat und bei Bedarf eine gute weitergehende (therapeutische) Unterstützung empfehlen kann,
ist das normalerweise kein Problem. Von den Programmteilnehmern wird ein riesiger
Vertrauensvorschuss erwartet, weil es darum geht, Zweifel beiseite zu räumen, Denkgewohnheiten in
Frage zu stellen sowie Verletzlichkeit und Offenherzigkeit zu riskieren. Letztendlich steht das Vertrauen
in sich selbst im Mittelpunkt, aber zunächst wird das Vertrauen beim Anleiter „geborgt“. Ohne die
grundsätzliche Überzeugung vom Wert dessen, was vermittelt wird, kann der Ausbilder – und das ist
meine ganz persönliche Erfahrung – nicht genügend Vertrauen und Sicherheit vermitteln, damit der
Sprung vom Vertrauten und Bekannten ins Unbekannte gewagt wird.
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