Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 75

Grafik: Wie Güte und Mitgefühl mit Bedrohung und Vermeidung zusammenhängen können. Aus Gilbert (2010), nachgedruckt
mit freundlicher Genehmigung von Routledge.
Angst vor Nähe und emotionales Gedächtnis
Eine Schwierigkeit des Mitgefühls hängt mit der Tatsache zusammen, dass es sich um einen
Beziehungsprozess und nicht um einen individuellen Prozess handelt. Es geht also zunächst darum,
aufmerksam wahrzunehmen und anzunehmen, was es heißt, von anderen mit Liebe, Zuneigung und
Mitgefühl bedacht zu werden. Idealerweise beginnt dies bereits in den ersten Lebenstagen durch die
Liebe der Mutter und kann sich so internalisieren. Doch für einige von uns verläuft dieser Prozess nach
einem anderen Muster. So wirkt die Nähe zu anderen für manche Menschen angsterregend, was
entweder auf genetische Empfindsamkeiten und/oder darauf zurückzuführen ist, dass sie
(beispielsweise als Kind) eher wenig Aufmerksamkeit erhalten und mehr Bedrohung als Zuneigung
erlebt haben. Zu solchen fatalen Erfahrungen in den ersten Lebensjahren zählen beispielsweise Eltern,
die man sich als Quelle von Ruhe und Liebe wünscht, die aber als unberechenbar, abweisend,
potenziell aggressiv und beschämend erlebt werden oder zu beschäftigt sind und somit „zum
gewünschten, aber abwesenden Anderen werden“. Die betroffenen Kinder erleben ein schreckliches
Dilemma.
Denn in dem Versuch, sich den Eltern in der Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung zu nähern,
aktivieren sie gleichzeitig die Angst vor Aggressionen, Beschämung oder dem Alleingelassensein.
Andere Menschen erinnern sich vielleicht daran, dass ihre Eltern sie als Kinder abgewiesen haben,
wenn sie verzweifelt waren, ihnen kindisches Verhalten vorwarfen oder sogar wütend auf sie wurden.
Solche Menschen begegnen später Nähe- und Verbundenheitsgefühlen mit Argwohn – besonders bei
Gefühlen der Trauer und der Sehnsucht nach Verbundenheit. Denn genau in diesen Situationen
fürchten sie sich davor, beschämt, abgewiesen oder verlassen zu werden. Bei anderen Kindern waren
die Eltern sehr direktiv und intrusiv, haben wenig gelobt und viel kritisiert. Diese Kinder haben gelernt,
sich vor Nähe zu fürchten, weil Nähe zu strenger Beobachtung führt und eine solche Beobachtung
Kritik und Scham zu Folge hat. Wir können dies als Scham vor Intrusion bezeichnen – wenn Menschen
zu nahe sind, könnten sie Dinge über einen herausfinden und dann kritisch, ablehnend oder feindlich
darauf reagieren.
Hier geht es also um zwei Probleme. Zum einen kann eine Öffnung für die Erfahrung des Empfangens
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