Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 71

Mitgefühl und Vergebung zu finden, kann da sehr schwierig sein – und ist für Kriegsveteranen oft genug
Grund, Selbstmord zu begehen. Der Mangel an Selbstvergebung und das Gefühl, kein Mitgefühl zu
verdienen, haben in solchen Zusammenhängen also äußerst schwerwiegende Folgen.
Häufiger noch kommen „Scham- und Schuldgefühle“ bei Menschen vor, die eine Affäre hatten oder die
ihre Beherrschung verloren und ihre Kinder geschlagen haben, schwerwiegende Fehler begangen oder
anderen geschadet haben usw. Ständiges Grübeln über sich selbst im Sinne von „Warum habe ich das
nur getan?“ oder „Warum habe ich das nur nicht getan?“ in Verbindung mit tief sitzender Wut und
Enttäuschung über sich selbst können den Verstand in einem Gefängnis der Vergeltung einkerkern und
die Ursache für eine Mitgefühlsblockade sein. Der Katholizismus hat dieses Problem zum Teil durch die
Überzeugung gelöst, dass Gottes Liebe allgegenwärtig ist, wenn man seine Sünden bekennt und
bereut – unabhängig davon, was man getan hat – vorausgesetzt jedoch, man erkennt das und versucht
sich zu ändern. Diese Religion fand also einen Weg, das auf Anschlussverhalten basierende System
der Gemeinschaftsorientierung zu (re-)aktivieren und Menschen dabei zu unterstützen, sich erneut mit
der Quelle der Liebe zu verbinden. Aber in unserer heutigen Gesellschaft kann Vergebung für die
schlimmen Dinge, die wir anrichten, schwieriger sein und somit Mitgefühl eine Herausforderung
darstellen. Echte Selbstvergebung bedeutet auch, sich mit der Bedeutung von Reue und Trauer zu
beschäftigen. Denn die können uns daran hindern, uns mit unseren schlechten Verhaltensweisen – und
sei es nur gedanklich – zu beschäftigen!
Der Zusammenhang zwischen Scham und Gram
Aber nehmen wir einmal an, dass wir den Wert des Mitgefühls tatsächlich erkennen und es wirklich
kennen lernen und kultivieren wollen. Dazu müssten wir uns ein wenig öffnen. Aber genau dann tritt das
Problem der Scham auf, eines der
trennendsten
Gefühle überhaupt. Denn das, was uns beschämt,
behalten wir für uns – es bleibt geheim, wie ein Gift im Herzen, verbunden mit der Angst der
Aufdeckung und des Ausgestoßenwerdens. Es ist die Geschichte von Adam und Eva: Wir könnten in
den Augen anderer als Täter dastehen, abgelehnt werden und dazu verdammt sein, allein zu bleiben.
Die Befreiung von Scham eröffnet uns die Möglichkeit, uns wieder (oder vielleicht sogar zum ersten
Mal) geliebt, verbunden und gewertschätzt zu fühlen – als eine wirklich in der Welt willkommene
Person. Doch dieses Gefühl ist zu Beginn gar nicht so einfach zu ertragen. Denn wir gehen das Risiko
der Ablehnung ein. Was werden andere über mich herausfinden, wenn ich ihnen in aller Offenheit
zeige, was in meinem Innern vor sich geht?“
Paul Gilbert
"Fears of Compassion"
1:24 min
Eine seltener erkannte Angst ist jedoch die überwältigende Traurigkeit, die im Innersten vieler
schamängstlicher Menschen liegen kann. Wenn wir uns anderen gegenüber „öffnen“, erkennen wir, wie
die Scham uns in einem tiefen Gefühl von Einsamkeit und Trennung von anderen isoliert hat. Die
Erfahrung, „endlich anzukommen“ oder „erstmalig die Möglichkeit zu spüren, liebenswert oder ein Teil
eines Netzwerkes von Menschen zu sein“, kann enormen Kummer und große Traurigkeit hervorrufen.
An diesem Punkt geraten Patienten dann manchmal ins Straucheln, weil diese Traurigkeit
überwältigend sein kann und sich unbeherrschbar und verwirrend anfühlt. Und wenn Menschen sich in
dieser Situation auf den Mitgefühlspfad begeben, sind sie nicht selten erstaunt darüber, dass sie sich
noch trauriger fühlen und noch stärker von Einsamkeitsgefühlen überwältigt werden, statt glücklicher
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