Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 74

und weicher zu werden. Und damit möchten sie sich nicht konfrontieren, insbesondere dann nicht,
wenn diese Traurigkeit mit Einsamkeitsgefühlen verbunden ist. Solche Menschen erzählen vielleicht
Geschichten darüber, wie sie früher von ihren Eltern kritisiert, geschlagen oder missbraucht und dann in
ihr Zimmer geschickt wurden, wo sie im Zustand großer Not und Verzweiflung alleine ausharren
mussten und niemand kam, um sie zu beruhigen oder zu erlösen. Andere Patienten wiederum fühlten
sich als Kind schüchtern und haben nie wirklich das Gefühl erlebt, dass sie in eine soziale Gruppe oder
Freundschaft „passten“ oder Teil solcher Gruppen waren. Durch Mitgefühl können sie mit diesen im
Körper verankerten Erinnerungen in Kontakt geraten – und dann wenden sie sich möglicherweise von
der „Mitgefühlsreise“ ab.
Emotionales Gedächtnis
Das emotionale Gedächtnis ist, wie oben erwähnt, unglaublich wichtig, um – einschließlich der
affiliativen und mitgefühlsbasierten Emotionen – die Funktionsweise aller möglichen Gefühle zu
verstehen. So freuen sich beispielsweise die meisten Menschen auf einen Urlaub und wir alle genießen
das Gefühl der sexuellen Erregung – allerdings zu einem geeigneten Zeitpunkt. Nehmen wir also
einmal an, etwas im Fernsehen stimuliert unsere Gedanken an Urlaub oder erweckt ein sexuelles
Interesse in uns. Für die meisten von uns ist eine Aktivierung dieser Grundsysteme in unserem Gehirn
angenehm. Doch stellen Sie sich einmal vor, Sie wären im Urlaub vergewaltigt worden (entschuldigen
Sie bitte dieses drastische Beispiel, aber wir müssen an diesem Punkt deutlich werden). In einem
solchen Fall würden
dieselben vom TV-Programm ausgehenden Stimuli
in Ihrem Gehirn ein völlig
anderes Muster erzeugen. Jetzt könnte der von dem aktuellen Fernsehprogramm ausgehende Impuls
sogar sehr
traumatisch
wirken. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass etwas, das normalerweise sehr
positive Gefühle auslösen würde, mit sehr unangenehmen, sogar traumatischen Erfahrungen assoziiert
werden kann. Das gleiche gilt für affiliative Stimuli: Ein stimulierendes System, das uns anderen
Menschen näher bringt und zu einer Öffnung ihnen gegenüber führt, kann tatsächlich traumatische
Gefühle aktivieren.
Und genau das kann mit dem Bindungs- oder affiliativen System geschehen, wenn eine
Traumatisierung im Zusammenhang mit Bezugspersonen stattgefunden hat. Deshalb reagieren manche
Patienten tatsächlich negativ auf mitfühlendes Verhalten eines Therapeuten, weil er durch eine subtile
Stimulierung der Empfindungen von Nähe und Zuwendung (unbemerkt) gleichzeitig traumatische
Erinnerungen stimuliert. Seit einigen Jahren wenden wir ein sehr einfaches Modell an, um dieses
Problem zu verdeutlichen.
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