Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 76

von Mitgefühl zugleich ein Wunsch nach und ein Betrauern von Verbundenheit aktivieren, die unsere
tiefste, angeborene soziale Natur berühren. Aber dann tauchen möglicherweise all die emotionalen
Erinnerungen wieder auf, die mit den Geschehnissen in früheren „engen Beziehungen“ verbunden sind
und zur Entstehung von Ängsten vor Nähe und Verbundenheit geführt haben. Dies kann einen fast
unlösbaren Konflikt zwischen einer beginnenden Sehnsucht nach Mitgefühl und einer zugleich tiefsten
Angst vor Gefühlen und Erinnerungen in Verbindung mit dieser Sehnsucht auslösen. Und diese
machtvolle Spannung zwischen der Bedrohlichkeit von und dem Wunsch nach Beziehungsaufnahme
kann dazu führen, dass solche Menschen sich von der Mitgefühlsreise verabschieden oder
distanzieren, weil ihnen Mitgefühl irgendwie als wenig hilfreich oder sogar gefährlich erscheint!
Und selbst Gefühle von Sicherheit können verzwickt sein. Eine Patientin erzählte mir, wie sie sich an
das Spiel mit ihren Kameraden im Garten erinnerte – an einem wunderschönen sonnigen Tag, an dem
alle viel Spaß hatten. Dann stürmte wie aus heiterem Himmel ihre Mutter, eine Alkoholikerin, in den
Garten. Sie schrie die Kinder an und schlug sie, denn sie hatte versucht zu schlafen und der Lärm der
Kinder hatte sie aufgeweckt. Meine Patientin schaute mich traurig an und sagte: „Du darfst dir selbst
niemals zugestehen, dich gehen zu lassen, Freude zu haben oder dich sicher zu fühlen. Denn das sind
genau die Momente, in denen du nicht sicher bist!“ Wir bezeichnen das als konditionierte emotionale
Erinnerungen, wobei ein Gefühl eine weitere emotionale Erinnerung auslöst, weil im Leben dieser
Person diese Paarung aufgetreten ist. Bei dieser Frau lösten beginnende Gefühle von Sicherheit,
Verbundenheit und Güte fast panikartige Emotionen aus.
Eine andere Patientin hatte zwar keine „Angst“ vor ihren Eltern, erzählte aber die Geschichte ihrer von
Agoraphobie betroffenen Mutter und wie sie sich manchmal schon so sehr auf einen geplanten Ausflug,
beispielsweise ans Meer, gefreut hatte. Die Patientin erinnerte sich daran, wie sie als Kind einmal den
Weihnachtsmann besuchen wollte, alle Kinder schon ganz aufgeregt waren, bereits ihre Mäntel
angezogen hatten und auf die Mutter warteten. Doch dann bekam die Mutter eine Panikattacke und der
Besuch fiel aus. Der Vater war in solchen Situationen manchmal ärgerlich und die Mutter brach oft in
Tränen aus. Diese Patientin hatte also die Erfahrung gemacht: „Ich lernte, mich niemals zu sehr zu
freuen. Ich wusste, dass man sich auf andere Menschen nicht verlassen kann und dass die Dinge nicht
so geschehen, wie man sie sich wünscht. Und ich schloss daraus, dass ich auf jeden Fall irgendwie
eine Belastung für andere Menschen bin, wenn ich zu viel von ihnen erwarte!“ Für diese Frau war
Mitgefühl zunächst tatsächlich damit verbunden, Gefühle ungekannter Wut gegenüber ihrer Mutter zu
erleben. Das belastete sie mit großen Schuldgefühlen, die sie zu unterdrücken versuchte. „Wie kann
man wütend auf eine Person sein, die so viel Angst hat und nur das Beste will? Wie kann man wütend
auf sie sein, wenn man weiß, dass sie einen liebt und man selbst sie auch lieben möchte?” Aber
natürlich können wir, mit Abstand betrachtet, die Traurigkeit und Enttäuschung des kleinen Mädchens
verstehen, das nicht die Möglichkeit hatte, all die schönen Dinge zu tun, die andere Kinder erlebten,
und dessen Erwartungen so oft enttäuscht wurden. Es ist ganz normal, in solchen Zusammenhängen
wütend zu sein. Schwierig wird es allerdings, die eigene Wut als normalen Prozess anzuerkennen,
wenn man sie in irgendeiner Weise als Beweis für die eigene Schlechtigkeit betrachtet. Es macht einen
nicht zu einem schlechten Menschen, wenn man über eine solche Art des Lebens wütend ist. Das sind
ganz normale Reaktionen und wir können entscheiden, wie wir damit umgehen wollen. Deshalb ist
Mitgefühl für solche Gefühle und Zwangslagen so wichtig. Gefühle sind nicht immer ganz eindeutig und
können oft im Widerspruch zu einander stehen (so können wir wütend auf unsere Angst sein und
gleichzeitig ängstlich auf unsere Wut reagieren). Unsere Gefühle können auch widersprüchlich zu
unseren Wünschen erscheinen, wenn wir beispielsweise wütend auf Menschen sind, die wir lieben,
oder uns in Menschen verlieben, die uns aufgrund ihrer destruktiven Art wissentlich nicht gut tun.
Wir haben also gesehen, dass Mitgefühl das Erleben affiliativer Gefühle anstoßen kann, die
möglicherweise wiederum Traurigkeit auslösen, und dass Gefühle der Nähe Ängste vor Nähe
stimulieren können. Wenn man sich den Brüchen in früheren Beziehungen zuwendet, kann dabei eine
Wut freigesetzt werden, die Schuldgefühle verursacht. Paradoxerweise führt Mitgefühl also nicht
76
1...,66,67,68,69,70,71,72,73,74,75 77,78,79,80,81,82,83,84,85,86,...557
Powered by FlippingBook