Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 69

Mitgefühlsbasierte Therapie
Viele Mitgefühlsansätze tragen der Tatsache Rechnung, dass uns durch Mitgefühl ausgelöste
Blockaden und Ängste davon abhalten, diese Kernqualitäten in uns zu kultivieren. Eine Beschäftigung
mit diesen Ängsten und Widerständen hilft uns, Mitgefühl in seinen drei Fokussierungsrichtungen zu
verstehen. Es gibt das Mitgefühl, das wir
für andere
empfinden und zum Ausdruck bringen, das
Mitgefühl
anderer
, dem wir uns öffnen, und das
Selbstmitgefühl
(siehe auch
in diesem
Band). Manche Menschen fühlen sich noch einigermaßen wohl, wenn sie anderen gegenüber
mitfühlend sind. Doch selbst Mitgefühl anzunehmen, ist ein wesentlich komplexerer und oft blockierter
Prozess. Und noch schwieriger kann die Entwicklung von Selbstmitgefühl sein.
Es ist über zwanzig Jahre her, dass ich in der Therapie auf die Angst vor Mitgefühl aufmerksam
geworden bin. Damals wollte ich stark depressive Menschen dabei unterstützen, sich einige ihrer
negativen Selbstbilder (sich beispielsweise minderwertig, nutzlos und nicht liebenswert zu fühlen) in
einer etwas realistischeren Weise (mit Hilfe der kognitiven Verhaltenstherapie) aus der Distanz
anzuschauen. In dem Bemühen, etwas zu verändern, gelang es mir zwar, diesen Menschen die
Vorzüge eines ausgewogeneren, angemesseneren und weniger harten Umgangs mit ihrem Selbsturteil
zu vermitteln. Doch sie folgten dieser Empfehlung oft mit kalt-pragmatischer Einsicht oder sogar
aggressiv. Dabei sagten sie sich selbst vielleicht Dinge wie: „Komm schon, du weißt doch selbst, dass
du auch was erreicht hast und kein Fehlschlag bist. Und schau mal, was deine Familie alles für dich tut.
Wie kannst du nur denken, dass du nicht liebenswert bist. Einfach dumm!“ So wurde mir klar, dass wir
uns wesentlich stärker auf die von Menschen erzeugten
Gefühle
konzentrieren müssen, wenn wir
Menschen zur Selbsthilfe anregen wollen. Denn gedankliches Verstehen allein hilft nicht weiter. Diese
selbstfokussierten Gefühle, die ihre neue Art zu denken begleiten sollten, hatten mit Ermutigung,
Unterstützung sowie einem Verständnis von innerer Güte und Wärme zu tun
In einer der
Übungen bat ich die Klienten, sich eine sehr gütige, weise Person vorzustellen, der sie wirklich am
Herzen liegen und die mit ihnen über diese alternativen Vorstellungen redet und darüber, wie es sich
anfühlen würde, wenn sie diese Vorstellungen akzeptieren. Ich war wirklich überrascht, wie schwierig
den Patienten der Versuch fiel, freundliche Gefühle für sich selbst zu generieren, für diese Gefühle
offen zu sein und sie anzunehmen. Einige Klienten leisteten direkt Widerstand und verweigerten sich.
Sie hatten Vorstellungen wie: „Ich verdiene keine Güte oder Freundlichkeit. Das ist eine Schwäche, die
mir nur einen kurzfristigen Vorteil verschafft. Das fühlt sich total fremd an. Güte hält niemals lange an.“
Andere Patienten wiederum sagten: „Ich hasse mich selbst und konnte mir noch nie vorstellen,
freundlich zu mir selbst zu sein.“ Eine weitere verbreitete Reaktion war Traurigkeit. Allein die
Vorstellung, dass man selbst tatsächlich liebenswert sein könnte, schien eine tiefe Sehnsucht nach
Verbundenheit und eine Einsamkeit zu berühren, die sich überwältigend anfühlt.
Für einige Patienten war es wirklich schwierig, anderen gegenüber offen zu sein und ihrer
Freundlichkeit zu vertrauen. So sagten Patienten zum Beispiel manchmal: „Ja, natürlich weiß ich, dass
Menschen freundlich zu mir sein können. Aber oft frage ich mich: Warum?“ oder „Wenn du mich
wirklich kennen würdest, wärst du nicht freundlich zu mir“ oder „Du bist freundlich zu mir, weil du dich
dabei gut fühlst“. Noah Levine liefert wertvolle Einsichten in die Schwierigkeiten, die der Zugang zu
Mitgefühl und Gefühlen der Güte für Menschen bedeuten kann, die in der Vergangenheit Gewalt,
Sucht, Missbrauch usw. erlebt haben, und beruft sich dabei auf seine eigenen persönlichen
Erfahrungen:
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