Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 60

selbst und anderen gegenüber oft leichter zugänglich [siehe auch
. Lindas Wandlungsprozess
im Umgang mit Adam begann mit Vergebung. Die folgenden Zitate stammen aus dem mit ihr geführten
Abschlussgespräch:
„Die CD mit der Vergebungsmeditation beginnt mit einer Vergebung sich selbst gegenüber.
Margaret Cullen
"Forgiveness Meditation"
12:03 min
Das ist ziemlich bizarr. Denn normalerweise, und das können Sie mir glauben, ist das nicht unbedingt
die Ausdrucksweise, mit der ich mich beschäftige. Aber ich muss sagen, dass ich die Meditation
gestern zum ersten Mal gemacht habe und ich nachher sehr bewegt war. Da ist tatsächlich etwas mit
mir passiert. Ich weiß, dass ich jede Menge Groll gegenüber Adam in mir trage, weil er so schwierig im
Umgang ist. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich ihn für etwas verantwortlich mache, dass größtenteils
überhaupt nicht in seiner Hand liegt. Er ist doch gerade erst sieben Jahre alt! Es spielt eigentlich keine
Rolle, ob er diese Sachen absichtlich tut. Er ist doch erst sieben Jahre alt! Durch die Meditation und die
Reflektion war es mir möglich zu erkennen, dass er sich ohne Liebe und Führung unmöglich ändern
kann.“
Einige Wochen später berichtete Linda von einer ganz bemerkenswerten Wende im Umgang mit Adam.
Nachdem sie im Seminar und zu Hause Güte- und Mitgefühlsmeditationen praktiziert hatte, bemerkte
sie an sich selbst völlig andere Reaktionen als in der Vergangenheit:
„Im Bus auf dem Weg zurück von einem Schulausflug hatte Adam einen völlig unkontrollierten
Gefühlsausbruch. Ich reagierte wie gewohnt (‚Ich ertrage das nicht. Das ist doch nicht normal und ich
ignoriere dich jetzt einfach’). Doch er machte einfach weiter. Dann wurde mir klar, dass das natürlich so
nicht funktioniert und alles nur noch schlimmer macht. Und so sagte ich: ‚Weißt du was, Adam? Leg
deinen Kopf einfach mal hier hin’ (und zeigte dabei auf ihre Schulter). ‚Leg deinen Kopf einfach mal hier
hin und entspann dich.’ Und nach weiteren gefühlten dreißig Sekunden war er schon eingeschlafen.
Sobald ich ihm gegenüber weich geworden war und aufhörte, dieses Ich-bin-definitiv-sauer-auf-dich-
Gesicht zu machen, konnte er plötzlich loslassen. Einfach so … sein Kopf auf meiner Schulter liegend.
Es war so deutlich zu spüren, dass er mehr Empfindsamkeit von mir braucht. Und obwohl ich vielleicht
auch insgesamt keine großartige Trefferquote bei ihm habe, so bin ich doch stolz auf solche Momente.
Das hat so viel verändert! Doch ohne die Beispiele im Seminar, die Gespräche über Güte und
Vergebung und all die weiteren Übungen hätte es diese Momente nicht gegeben. Sobald ich begriffen
hatte, dass Adam einfach
unbeholfen
und nicht
böse
ist, kam es für mich darauf an herauszufinden, wie
ich mit seiner Unbeholfenheit umgehen kann, anstatt selbst unbeholfen zu reagieren. Aber für mich war
es ja gerade vor diesem Seminar so frustrierend gewesen
zu wissen
, wie unbeholfen ich bin. Und ich
wusste einfach nicht, wie ich damit fertig werden sollte. Doch die Antwort auf diese offene Frage ergab
sich nicht aus einer Technik oder einer Strategie, sondern daraus, liebevoll, sanft und ehrlich
mit mir
selbst
zu sein.“
Während unseres Mitgefühl-Seminars erzählte ich eine Geschichte vom Babemba-Stamm in Afrika.
Lindas Gesichtsausdruck war schon fast komisch in seiner Übertreibung: von Skepsis über Verachtung
bis hin zu Geringschätzung. Doch dann sah sie plötzlich aus, als ob
ihr
auf einmal ein Licht
aufgegangen wäre. Und im Abschlussgespräch erzählte Linda dann auch noch diese bemerkenswerte
60
1...,50,51,52,53,54,55,56,57,58,59 61,62,63,64,65,66,67,68,69,70,...557
Powered by FlippingBook