Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 57

Ein Kennzeichen von Mitgefühl und Güte ist die Erkenntnis unseres gemeinsamen Menschseins. Je
fremder uns ein Anderer ist, umso schwerer fällt es uns normalerweise, Empfindungen von Anteilnahme
und Zuwendung für ihn zu entwickeln und auf ihn auszudehnen. Diese Jungen mit ihrem
schikanierenden und quälenden Verhalten befanden sich weit außerhalb der Grenzen dessen, was sich
für Mary sicher und vertraut anfühlte. Doch als sie ihnen in der Meditation Wünsche von Güte und
Mitgefühl zusandte, begann sie wahrzunehmen, dass diese jungen Menschen einfach Menschen sind,
genau wie sie selbst. Sie realisierte, dass sie Eltern hatten, die sie liebten und die sich Sorgen um sie
machten. Sie erinnerte sich an ihre eigenen Unsicherheiten und ihr Bedürfnis nach Bestätigung durch
Kollegen. Und sie machte sich klar, wie dies ihr Verhalten steuert. Sie bemerkte, dass auch ihre
Schüler während starker Emotionen vorübergehend unter einer „Blindheit“ litten, die ihr selbst bekannt
war. Und sie war sogar in der Lage, tiefe Anteilnahme für den Jungen zu empfinden, der sie bedroht
hatte, und berichtete uns, dass ihr „Herz aufbrach“, als sie sich vorstellte, wie schmerzhaft die Situation
für seine gesamte Familie sein musste.
Mary traf eine ungewöhnliche Entscheidung. Trotz meiner Warnung, Programminhalte des
Lehrertrainings in die Schulklasse zu tragen, beschloss sie spontan, ihren Fünftklässlern die
Refraktärphase zu erklären. Und es war, so ihre Beschreibung, als ob diesen Störenfrieden im hinteren
Teil des Klassenraumes plötzlich ein Licht aufgegangen wäre. Zum ersten Mal zeigten sie Interesse
dafür, was sie zu sagen hatte. Als sie die Erleichterung auf ihren Gesichtern sah, begriff sie, dass diese
Schüler sich selbst gegenüber ebenfalls Empörung empfunden hatten und sich Vorwürfe wegen ihres
Verhaltens machten. Das Konzept der Refraktärphase ermöglichte es ihnen, sich selbst in einer neuen
und zugleich normalisierend wirkenden Weise zu verstehen. Sie hatten eigentlich eine Bestrafung,
Ärger oder Unmut erwartet. Dadurch, dass ihnen nicht nur Verständnis entgegenkam, sondern auch
eine Möglichkeit vorgestellt wurde, sich selbst zu verstehen, konnte ein Muster durchbrochen werden –
das zu weiteren Schneeballeffekten hätte führen und sie schließlich ins Jugendgefängnis hätte bringen
können.
Für Mary eröffnete die bewusste Ausdehnung von Güte und Mitgefühl auf ihre schwierigsten Schüler
die Möglichkeit, als Lehrerin kreativer und spontaner zu werden. Die Vorstellung des Leidens dieser
schwierigen Schüler machte sie sanfter in der Begegnung mit ihnen. Sie musste ihnen nicht mehr
„beweisen“, wie schlecht sie waren, um ihre Anklagepunkte gegenüber den Jungen zu bekräftigen. Um
diese Kinder zu erreichen, musste Mary stattdessen bereit sein, ihre Wut ihnen gegenüber loszulassen.
Als ihr das gelungen war, fand sie Zugang zu ihren natürlichen Einsichten und ihrer Kreativität als
Lehrerin, wozu auch die neuartige Idee zählte, den Fünftklässlern das Konzept der Refraktärphase zu
vermitteln.
Linda
Linda unterrichtete sieben- und achtjährige Schüler und Schülerinnen in einer öffentlichen Schule in
einem sozial eher durchmischten Umfeld. Man kann sich kaum eine direktere, ehrlichere und
tatsachenbezogenere Person als Linda vorstellen. Sie liebte ihre Schüler, aber ohne Sentimentalitäten.
Für mich war es großartig, sie kennenzulernen, nicht nur, weil sie mich mit ihren Zweifeln und ihrer
Skepsis herausforderte, sondern auch, weil auf ihrem ausdrucksstarken Gesicht jede Verwirrung und
jeder Widerwille gegenüber Aussagen oder Ideen abzulesen war, die nur einen Hauch von „New Age-
Unsinn“ vermuten ließen. Linda hatte sich zur Teilnahme am Programm entschlossen, weil sie sich
durch einen bestimmten Jungen in ihrer Klasse (Adam) sehr herausgefordert fühlte. Mit Adam schien
überhaupt nichts zu funktionieren. Immer öfter ging er ihr auch nach dem Unterricht nicht mehr aus
dem Kopf.
Im MBEB-Programm wird vor der Einübung von Güte und Mitgefühl eine Vergebungsmeditation
vermittelt. Denn wenn wir Groll und Ärger loslassen können, werden uns Wärme und Anteilnahme uns
57
1...,47,48,49,50,51,52,53,54,55,56 58,59,60,61,62,63,64,65,66,67,...557
Powered by FlippingBook